Katholiken leben dasselbe Leben wie Atheisten

Leserbrief in OÖNachrichten am 14. Jänner 2010

Dass die Ursachen für die Kirchenaustritte tiefer liegen als Beinahebischof Wagner oder die Piusbrüder, ist klar. Früher hatte der Großteil der Menschen eine sechsklassige Volksschul"bildung", die Religion nahm im Leben einen wichtigen Platz ein und wurde innerfamiliär stark tradiert. Heute haben alle Menschen mehr Allgemeinbildung, ein Gott der mit einer Jungfrau einen Sohn hat, der für die Sünder am Kreuz stirbt, um dann in den Himmel aufzufahren, wo er die verstorbenen Guten belohnt und die toten Bösen bestraft, erscheint als reichlich schlichte Story, die den Großteil der Menschen, auch der Kirchenmitglieder, kaum noch berührt oder auch nur interessiert. Sonntags gehen von den 5,5 Millionen Katholiken gerade ein paar Hunderttausend in die Kirche oder beten regelmäßig, die meisten Katholiken leben dasselbe Leben wie Atheisten. Da auch der gesellschaftliche Druck und die einst so wichtige Religionstradition in den Familien verschwinden, treten eben jedes Jahr ein Schwung der glaubenslosen Mitglieder aus. Die Kirche kann nichts dagegen machen, die Jesus-Story berührt die Leute nimmer.
Erwin Peterseil, 4020 Linz

Am 15. Jänner waren zwei weitere ähnliche Briefe in den OÖN zu finden.
Der erste Schreiber sieht Ursachen, meint aber noch, es gäbe kirchliche Gegenmittel,
der zweite fordert gesellschaftspolitische Konsequenzen:

Dogmatischer Ballast
Religion ist heute längst nicht mehr das Generalthema unserer Kultur. Die Menschen genießen alle Freiheiten, die unsere Wohlstandsgesellschaft möglich macht und haben sich von den Fesseln der Fremdbestimmung weitgehend gelöst. Rigide religiöse Verhaltensnormen als Preis für vage Heilsversprechen wollen immer weniger Menschen akzeptieren und der Respekt vor religiösen Überzeugungen sinkt ins Bodenlose. Die Kirchen können oder wollen dies nicht verstehen, sie sind im 21. Jahrhundert noch nicht angekommen und offenbar auch unfähig, sich aus ihrem selbst gestrickten Dogmenkorsett zu befreien.
Kaum jemand will mehr ungedeckte Wechsel auf die ewige Seligkeit kaufen seit hier und jetzt an jeder Ecke, "Wellness" angeboten wird. Und ob der neue Populismus in Sachen Sozialpolitik die Flüchtenden aufzuhalten mag, wo doch die Gewerkschaft das viel besser kann, wird sich weisen. Es ist auch nicht bloß das Fehlverhalten kirchlicher Repräsentanten, warum die Menschen der Religion den Rücken kehren, es ist das Unvermögen der Kirchen, dogmatischen Ballast abzuwerfen und auf die seelischen Probleme der Menschen in Liebe einzugehen, auf ihr Suchen zu hören, Zuversicht zu geben und Liebe vorzuleben.
Dr. Gerhard Forsthuber, Linz

Sonderstellung
Nach den in Ihrer Ausgabe vom 13. Jänner veröffentlichten Zahlen ist der Anteil der Katholiken Ende 2009 auf 66 Prozent oder zwei Drittel der Gesamtbevölkerung gesunken. 1957, im Jahr der Anerkennung des Konkordats von 1933 durch die damalige österreichische Bundesregierung, gehörten noch über 85 Prozent der Österreicher der römisch-katholischen Kirche an.
Diese Entwicklung verlangt nach einer Überprüfung der in der österreichischen Rechtsordnung verankerten Sonderstellung der Kirche, besonders im Steuer- und im Bildungswesen. Über die Anbringung religiöser Symbole im öffentlichen Raum ist die öffentliche Diskussion bereits im Gange. Die Kirche ist aufgefordert, nicht auf überholten Gesetzen zu beharren, sondern sich der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen. Welchen Anteil die Kirche an der Bevölkerung hat, ist ihre Sache. Welche ihrer tradierten Rechte sie einer immer größer werdenden Minderheit auf zwingt, betrifft uns aber alle.
Dkfm. Günter Rott, Linz

Am 22. Jänner waren in den OÖN noch zwei diesbezügliche Leserbriefe zu finden:

Der erste stammte von einem tiefgläubigen Briefeschreiber

Tiefere Ursachen

Eine Reihe erschütternd negativer Leserbriefe zum Thema Kirchenaustritte veranlassen mich, meine Erfahrung kurz zu formulieren, weil ich Gottlosigkeit und Sarkasmus absolut nicht vernünftig finde: Für mich sind Jesus Christus, seine übernatürliche Geburt, sein Leiden für die erlösungsbedürftige Welt, seine Auferstehung und sein Evangelium geschichtliche Tatsachen.
Christus brachte nach Jahr-Milliarden der Evolution über das Gebot der Nächstenliebe Segen, Freude und Hoffnung auf die Erde. Christi Botschaft ist neben den Zehn Geboten auch für die persönliche Lebensführung und das Zusammenleben der Menschen und Völker die wichtigste Richtschnur! Weniger die Fehler von Kirchenvertretern, sondern Materialismus, Egoismus, Geiz, Ehrgeiz und andere Folgen der heutigen Konsumwelt sind die tieferen Ursachen der Kirchenaustritte.
Dipl-Ing. Gottfried Praxmarer, Linz

Ui, da müsste die Welt ja wunderbar sein! Wenn der übernatürliche Herr Jesus dies alles auf die Welt gebracht hätte! Hat er aber offenbar nicht und in seiner Kirche dürfte diese freuden-, segens- und hoffnungsreiche Botschaft auch nicht allzu bekannt sein.

Der zweite Brief ist realistisch-praktisch:

Wissen
In den Mutmaßungen über die Flucht aus der römisch-katholischen Kirche wurde ein triftiger Grund auch nur ansatz-weise nicht erwähnt - nämlich der der Allgemeinbildung. Verfolgt man die Kirchengeschichte zurück, so fällt auf, dass das Gros der Bevölkerung vom Faktor Wissen bewusst ausgeschlossen wurde. Als Ersatz bot die Kirche die dünne Suppe des Glaubens an.
Damit konnte die Kirche über die Jahrhunderte ihre Machtbasis erhalten und auch noch ausbauen. Eine Schicht höher stehender Personen wie z.B. der Adel wurde durch Bildung an der Machtausübung beteiligt, aber durch gezielte Fehlinformationen wie über das heliozentrische Sonnensystem, Alter und Erschaffung der Erde und mehr gegängelt. Fakt ist: Mit Zunahme der allgemeinen Bildung wird der Machtanspruch der Kirche und ihrer verkrusteten Hierarchie immer weiter an Boden verlieren.
Hans-Jörg Lanik, Linz