Katholische Kinderschänder - Teil 2

SPIEGEL:
Katholische Kirche in Deutschland - Bistümer melden Dutzende Verdachtsfälle auf Kindesmissbrauch

Katholische Kleriker: "Die aktuelle Diskussion nicht noch befeuern"
Die Zahlen sind ungeheuerlich - und sie erschüttern die katholische Kirche in Deutschland: Nach SPIEGEL-Informationen gab es in den vergangenen Jahren in deutschen Bistümern über 90 Verdachtsfälle auf Kindesmissbrauch. Kirchenvertreter reagieren entsetzt.
Hamburg/Berlin - Die Zahl möglicher Missbrauchsfälle in der deutschen katholischen Kirche ist größer als bislang angenommen: Eine Umfrage des SPIEGEL bei allen 27 deutschen Bistümern ergab, dass seit 1995 mindestens 94 Kleriker und Laien unter Missbrauchsverdacht geraten sind. 30 von ihnen wurden in der Vergangenheit juristisch belangt und verurteilt.
Viele Fälle waren zum Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens jedoch bereits verjährt. Derzeit stehen den Angaben zufolge mindestens zehn Kirchendiener unter Missbrauchsverdacht.
Von den 27 Bistümern, die der SPIEGEL am vorigen Dienstag angefragt hatte, antworteten 24. Nur die Bistümer Limburg, Regensburg und Dresden-Meißen verweigerten eine Auskunft zu Missbrauchsfällen. Man wolle "die aktuelle Diskussion nicht noch befeuern", erklärte etwa der Sprecher des Bistums Dresden-Meißen. Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Jesuitenpater Hans Langendörfer, sagte indes: "Die Enthüllungen zeigen ein dunkles Gesicht der Kirche, das mich erschreckt. Wir wollen das Thema offen angehen."

Kritische Katholiken fordern Konsequenzen
Kritische Katholiken-Gruppen fordern nun eine Korrektur der bischöflichen Leitlinien, die den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche regeln. So regt Bernd Göhrig, Geschäftsführer der "Kirche von unten", die Einführung unabhängiger Ombudsstellen an. Bei der am 22. Februar beginnenden Tagung der Deutschen Bischofskonferenz wollen sich die Oberhäupter der katholischen Bistümer mit dem kirchenweiten Missbrauchsskandal, der in der vorigen Woche durch die Ereignisse an der Berliner Jesuitenschule Canisius-Kolleg Auftrieb bekam, auseinandersetzen.
In Fall Canisius sehen Experten kaum Chancen für Entschädigungen. Wie bei der strafrechtlichen seien auch bei der zivilrechtlichen Aufarbeitung Verjährungsfristen zu berücksichtigen, gaben sie am Freitag zu bedenken. Zugleich meldeten sich weitere Opfer. Inzwischen sind Fälle von allen drei deutschen Jesuiten-Gymnasien - dem Berliner Casinius-Kolleg, dem Kolleg St. Blasien im Schwarzwald und dem Bonner Aloisiuskolleg - bekannt.
Erste Missbrauchsfälle aus den siebziger und achtziger Jahren waren am 28. Januar in Berlin öffentlich geworden. Dann kamen weitere Taten von drei Jesuiten-Patern in Hamburg, Hildesheim, Göttingen, Hannover, im Schwarzwald und in Bonn ans Licht. Die Zahl der Opfer liegt bei mindestens 30.
Nach Einschätzung der Berliner Staatsanwaltschaft sind die meisten bisher bekannten Fälle strafrechtlich verjährt. Die Vorermittlungen zu den Taten liefen zwar noch bis nächste Woche, sagte ein Justizsprecher, aber die Verjährungsfrist für diese Form sexuellen Missbrauchs betrage zehn Jahre ab dem 18. Geburtstag des Opfers und sei abgelaufen.
(Spiegel, 6.2.2010)

STERN:
Missbrauch in der Kirche: Die Herde der schwarzen Schafe

Von Sönke Wiese - Experten schätzen, dass es unter deutschen Priestern Hunderte Triebtäter gibt. Warum kommt es in der katholischen Kirche so oft zum Kindesmissbrauch? Der Zölibat ist eines von vielen Problemen.

Tausende Missbrauchsopfer in Irland, über 100 rechtskräftig verurteilte Priester in Australien und mehr als 10.000 Klagen in den USA: Weltweit stürzen Kinderschänder die katholische Kirche in eine immer schwerere Krise. Erst im Dezember 2009 sind in Irland über 300 weitere Fälle von Kindesmissbrauch bekannt geworden. In Deutschland konnten die Gemeinden sexuelle Übergriffe, wenn sie überhaupt bekannt geworden waren, meist als Einzeltaten herunterspielen.
Seit dem Skandal am Berliner Canisius-Kolleg funktioniert das nicht mehr. Jahrelang missbrauchten die bisher drei bekannten Täter ihre Schüler; nicht nur in Berlin, sondern auch in Hamburg, St. Blasien, Hannover, Göttingen und im Ausland. 30 Opfer haben sich schon gemeldet. "Das ist erst die Spitze des Eisbergs", fürchtet Klaus Mertes, Rektor des Jesuiten-Kollegs.

"Wie ein Selbstmordattentäter"
Denn die meisten Taten werden aus Scham und Angst niemals angezeigt. "Man idealisiert die Täter", sagte Norbert Denef im Interview mit stern.de. In seiner Kindheit war er jahrelang von einem Priester vergewaltigt worden. Viele Opfer sexuellen Missbrauchs fühlen sich lebenslang mitschuldig. Als Denef 30 Jahre später plante, das Schweigen zu brechen, kam er sich vor "wie ein Selbstmordattentäter". Die meisten Opfer versuchen, das traumatische Geschehen zu verdrängen. Experten gehen von einer enorm hohen Dunkelziffer aus, auch in Deutschland dürften schon tausende Kinder in der Obhut von Geistlichen vergewaltigt worden sein.
Wunibald Müller, katholischer Theologe und Psychotherapeut, schätzt, dass hierzulande zwei bis vier Prozent der Priester sexuelle Übergriffe auf Kinder begehen; das wären bis zu 700 Täter in den katholischen Reihen. Bei diesen Zahlen kann man nicht mehr von einzelnen schwarzen Schafen sprechen. Der Mediziner Klaus Beier, der an der Berliner Charite Phädophile betreut, sagte im "Tagesspiegel", man müsse davon ausgehen, "dass Pädophilie unter Geistlichen eher häufiger ist als in anderen Berufsgruppen."

Gestörte Sexualität
Warum aber bloß neigen katholische Kleriker stärker zu sexuellen Übergriffen? "Man muss sich fragen, welche Menschen den Weg wählen, im Zölibat zu leben", sagt Annegret Laakmann von "Wir sind Kirche" zu stern.de. Die Reformbewegung entstand 1995 nach einem Aufsehen erregenden Missbrauchsskandal in Österreich. Sie sammelte in Deutschland und Österreich über zwei Millionen Unterschriften für ihre Forderung nach einer grundlegenden Erneuerung der katholischen Kirche.
Laakmann sagt, einige der jungen Männer, die Priester werden wollen, hätten von Anfang an ein problematisches Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität. "Sie sind in der Pubertät steckengeblieben und können sich keine Beziehung zu gleichaltrigen Erwachsen vorstellen." Der Zölibat sei nicht der Grund für Missbrauch, aber er locke eben verstärkt Männer mit krankhaften Neigungen an.

Fehlende Empathie
Ein weiteres Problem: Priester setzen sich mit großen Gruppen, der Gemeinde, auseinander, aber intensive Beziehungen zu einzelnen Menschen bleiben ihnen gewöhnlich verwehrt. "Sie lernen nicht, persönliche zwischenmenschliche Gefühle zu entwickeln", sagt Laakmann. Aus diesem Grunde fehle es einigen Priestern an Empathie - ein klassisches Merkmal für Kinderschänder, die oft nicht richtig ermessen können, welches Leid sie über ihre Opfer bringen. Häufig hört man die Verharmlosungsfloskel "So schlimm war das doch gar nicht"; manche Triebtäter glauben das tatsächlich. Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, sagte in einer WDR-Dokumentation: Es gebe Täter, "die einmal ausrutschen, die man aber nicht einfach ein Leben lang von der beruflichen Aktivität ausschließen kann."
Annegret Laakmann von "Wir sind Kirche" fordert das Gegenteil: dass solche potenziellen Täter von vorne herein gar nicht erst in ein Kirchenamt gelangen. In der Priesterausbildung müsse man Sexualität zum Thema machen und die Kandidaten auf ihre Reife prüfen. Laakmann: "Es darf nicht sein, dass Menschen, die für Triebtaten prädestiniert sind, überhaupt geweiht werden."
(STERN 6.2.2010)