Schönborn und die Austrittswelle

Am 18. Dezember 2010 meinte der österreichische Oberkatholik Schönborn in einem Interview mit der Tiroler Tageszeitung, "wir hatten seit der Nazizeit nicht mehr so eine Kirchenaustrittswelle". Dazu unpassend zitierte er Ingeborg Bachmann: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Weil Wahrheit will er keine zumuten.

Probieren wir es einmal mit der Wahrheit. 1933/34 hatten die Klerikalfaschisten ihre Diktatur errichtet. Einer der gesetzten Maßnahmen war es, den Kirchenaustritt auch formal zu verunmöglichen: wer austreten wollte, musste sich seit August 1933 einer Überprüfung seines Geisteszustandes unterziehen.

Man darf außerdem nicht vergessen: in den damaligen Zeiten war es in Österreich eine Art von Selbstverständlichkeit, katholisch zu sein. Kirchenaustritte bedurften hohen Mutes, weil man sich damit selber als "Gottloser" ausgrenzte. Es hatte trotzdem vor 1934 auf niedrigem Niveau eine steigende Tendenz bei den Austritten gegeben. Als die Klerikalfaschisten das Land dann fest in ihrer Christenhand hatten, gab es zehntausende Wiedereintritte: Konfessionslose mussten um Arbeit und Brot fürchten.

1938 hoben die Nazis die Vorschrift auf, dass Austreter psychiatriert werden und stellten die seit 1869 geltende Regelung wieder her.

Dadurch traten natürlich zehntausende Menschen aus, die in der klerikalfaschistischen Zeit besonders unter dem Religionszwang gelitten hatten. Die Nazis selber führten keine öffentlichen Austrittskampagnen ab, Hitler blieb bis zu seinem schmählichen Ende Mitglied der katholischen Kirche. NS-motivierte Austritte gab es vor allem unter den neuheidischen Germanentümlern. Die Austrittswelle kam allerdings bereits 1940 zum Erliegen.

"Wir sind Kirche"-Sprecher Hans Peter Hurka meinte zum Schönborn-Sager "wir hatten seit der Nazizeit nicht mehr so eine Kirchenaustrittswelle", damals wären die Austritte durch äußeren Druck erfolgt und heute die Kirchenfürsten selbst daran Schuld. Was so nicht stimmt! Die Kirchenaustritte erfolgten auch in der NS-Zeit nicht auf äußeren Druck, sogar der Großteil der NSDAP-Mitglieder blieb katholisch. Für den Großteil der Austritte war auch 1938 die katholische Kirche selber verantwortlich. Heute sind Austritte leichter als damals, weil heute die katholische Kirche nicht mehr in der Lage ist, die Bevölkerung unter einem Psychodruck zu halten, heute auszutreten braucht keinen Mut mehr, bewirkt keine gesellschaftliche Ausgrenzung mehr, die Zahl der Konfessionsfreien tendiert in Österreich bereits gegen zwei Millionen!

Schönborn rechnet für 2010 mit 80.000 Austritten. Vielleicht werden es weniger sein, vielleicht sagt er 80.000, um nachher frohgemut beschönigen zu können, es wären wider Erwarten eh nur 75.592 gewesen.

Schönborn versucht, die Austreter herunterzumachen, sie in die Nazizeit einzureihen, was ihm allerdings nicht gelingen wird. Dass 2010 zum Jahr der katholisch-klerikalen Kinderschänder ausgerufen werden hätte müssen, das interessiert den Herrn Kardinal nicht. Er hat sich ja eh entschuldigt und für schadensschonende Abwicklung seine kircheneigene Klasnic-Kommission. Als Hintergrund für die Kinderschändungen entblödete sich der österreichische Katholikenchef nicht, der 68er-Zeit Mitschuld zu geben, "es war doch die Zeit, wo viele Leute offen forderten, Sexualität mit Kindern freizugeben." Auweh! Und seine kinderschändenden Kleriker waren 68er, die solchen Forderungen nachgekommen sind?

Sonst meinte Schönborn in diesem Interview noch "ein aseptisch öffentlicher Raum ohne religiöse Symbole ist aus meiner Sicht unlebbar". Also wenn es keine Kreuze in Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern gibt, dann ist der öffentliche Raum tot? Nein, Herr Schönborn, öffentliche Einrichtungen ohne aufgehängte christliche Herrschaftszeichen wären nur ein längst fälliger Schritt in Richtung Trennung von Staat und Religion. Es zwingt ja auch die Kirchen niemand, in ihren Tempeln den Bundesadler oder ein Bild des Bundespräsidenten aufzuhängen, was sollen also Kreuze in öffentlichen Einrichtungen?

Vielleicht sollte man nochmals Ingeborg Bachmann zitieren: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Die Wahrheit ist auch der katholischen Kirche zumutbar. Die aktuellen Kirchenaustritte sind keine Wiederholung der NS-Zeit, sondern eine Folge kirchlicher Missstände und kirchlicher Untaten. Dass Menschen heutzutage die Kirchen leichter verlassen als in früheren Zeiten, ist zudem eine Folge des Säkularismus. Von den ca. 5,5 Millionen katholischen Kirchenmitgliedern sind vielleicht bis zu zwanzig Prozent etwas bis sehr religiös, dem großen Teil ist die Religion jedoch egal. Ein Austritt daher keine so große Sache mehr. Die Austritte werden auch in den kommenden Jahren nicht auf ein niedriges Niveau zurückgehen, die Kirchen werden zudem auch langsam den Sterbeüberschuss zu spüren bekommen, Religion wird nicht nur im Alltagsleben weiter an Bedeutung verlieren, sondern auch in der Mitgliedersubstanz.

PS: Nachtrag vom 20.12.2010: Der Theologe Paul Zulehner versuchte, die Kirchenaustrittswelle jenseits der aktuellen Anlässe zu erklären. Seine Argumentation geht jedoch an der Realität vorbei, siehe dazu 80.000 Kirchenaustritte.

PPS: Am 22. Dezember 2010 erschien im Standard dieser Leserbrief: