Eine US-Untersuchung hat jüngst erbracht, dass das Gebiet der ehemaligen
DDR weltweit das religionsfreieste Land ist, nur rund acht Prozent glaubten
dort an einen "persönlichen Gott", also nicht an irgendein unbestimmtes
"höheres Wesen" oder "Prinzip", sondern an Jesus, Allah
oder Teutates, 46 Prozent bezeichneten sich als Atheisten. Seinerzeit in der
DDR hatte es immer wieder Kampagnen gegeben, auf irgendwelchen Gebieten zur
"Weltspitze" zu gehören. Gelungen ist dies mittels heute eher nicht
mehr zugelassener Methoden im Sportbereich und mit anhaltender Wirkung in Bezug
auf die Religionsfreiheit.
Diese Religionsfreiheit als Freiheit von
Religion ist klarerweise den religiösen Predigern und Funktionären ein Dorn
im Auge. Nach dem Konkurs der DDR 1989 hechelte man danach, dort endlich
wieder wirkungsvoll das Wort Gottes verkünden zu können und erwartete sich ganz
ernsthaft, dass die ehemaligen DDR-Bürger mit Begeisterung wieder religiös würden.
Sie wurden es nicht, sondern im Gegenteil: die Religiösen wurden immer weniger
und sie werden es heute noch.
Der frühere Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Axel Noack, meinte dazu,
einerseits wären zurzeit der noch offenen DDR-Grenzen (bis 1961) hauptsächlich
bürgerliche Kreise in den Westen geflüchtet und damit auch die "kirchentragenden
Schichten". Für die anhaltende Religionslosigkeit seien nicht die Kirchenaustritte
ausschlaggebend, sondern der "Grund waren vielmehr die Eltern, die ihre
Kinder nicht mehr taufen ließen und sie nicht zum kirchlichen Unterricht und
zur Konfirmation geschickt haben, sondern stattdessen zur Jugendweihe."
Die Leute wären überdies keine radikalen Atheisten, "die meisten Menschen
sind vielmehr am christlichen Glauben nicht interessiert. Sie haben sich nie
damit beschäftigt."
Da hat er sicherlich recht! Genau wie bei uns:
auch die Kirchen im Westen erleben das stetig fortschreitend, die familiären
Religionstraditionen verschwinden, die Kinder werden nicht schon im Vorschulalter
religiös konditioniert, jedoch nicht aus Antiklerikalismus, sondern aus Interesselosigkeit.
Religionen erfüllen keine Bedürfnisse. Das ist das Schlimmste, was ihnen
passieren kann, ohne Nachfrage hängt das Angebot in der Luft, das ist irgendwie
so ähnlich, wie dass im Zeitalter der Digitalkameras die Verwendung alter Fotoapparate
für Kleinbildfilm immer mehr zurückgeht. Die Firma Kodak, einst weltgrößter
Produzent von Filmmaterial, stellte im Februar 2012 Konkursantrag. Bis die christlichen
Kirchen auch so weit sind, wird es noch eine Weile dauern.
Ähnlich wie
Noack äußerte sich auch der Theologieprofessor Johannes Berthold, er weist
darauf hin, dass ein Großteil der Bürger schon in zweiter und dritter Generation
in konfessionslosen Familien groß geworden sei: "In ihnen wird nicht
von Gott gesprochen. Sie haben ihn schlicht vergessen." Darum fehle
auch jegliches religiöse Grundwissen. Dass dieses Grundwissen von den Leuten
offenbar in keiner Weise vermisst wird, fiel dem Professor anscheinend nicht
auf. Papst Ratzinger redet häufig von den Menschen, die nach Religion suchten.
In der Ex-DDR suchen die Menschen nicht. Weil ihnen nichts fehlt. Das lässt
sich als Gesamtergebnis feststellen.
Berthold weiters: Viele
Familien hätten die eigene Konfessionslosigkeit als Identität so verinnerlicht,
"dass sie zum Bekenntnis geworden ist." Andererseits sieht er als
Ursache dafür, dass in katholischen und orthodoxen Gebieten des ehemaligen Ostblocks
die Religionslosigkeit weniger oder gar nicht verbreitet sei, darin, dass die
protestantischen Kirchen "elementare Bedürfnis nach Spiritualität"
nicht ausreichend befriedigten, Bilder und Rituale kämen solchen Bedürfnissen
entgegen, der "Kirche des Kultus gelingt das offenbar besser als der Kirche
des Wortes". Da ist vielleicht ein bisschen was Wahres dran, das Elementare
ist allerdings, dass die katholische Kirche wie die Orthodoxie an ihr Publikum
mehr Ansprüche stellt und darum vorhandene religiöse Traditionen sich weniger
schnell in Beliebigkeit auflösen, die protestantischen Kirchen in Deutschland
stehen von ihren Traditionen her dem Säkularismus viel näher.
Eine
recht verquere Argumentation lieferte ein Pastor Reinhard Holmer aus Elbingerode,
er übernahm die Anschauungen von Papst Ratzinger und sprach ebenfalls vom
Atheismus des Nationalsozialismus. Dabei hatte gerade die evangelische Kirche
ein ausgesprochenes Naheverhältnis zum NS-System, man baute sogar eine "Reichskirche"
mit einem "Reichsbischof" auf! Seine Behauptung, die nationalsozialistische
Ideologie wäre stark atheistisch gefärbt gewesen, ist purer Umsinn. Es gab allerdings
eine NS-Religion als Konkurrenz. Nazis, die aus den Kirchen austraten, bekamen
amtlich den Status "gottgläubig"! Die bis Kriegsende nicht fertig
ausgeformte NS-Religion war eine
Art Pantheismus, der sich an Jahreszeiten und Familienfesten orientierte, also
an Sonnenwenden, Frühlingserwachen, Erntedank, Geburten, Hochzeiten, Tod, atheistisch
war daran nichts. Der Pastor meint weiters, nach 1945 hätte es in manchen Regionen
des sowjetischen Besatzungszone wenig geistliches Leben gegeben, dadurch wäre
man auf den "Angriff des Kommunismus" geistlich nicht vorbereitet
gewesen.
Zusammenfassend: Auf dem Gebiet der DDR hat sozusagen ein
Großfeldversuch "religionsfrei leben" stattgefunden und das Ergebnis
gebracht: es lässt sich ohne Verluste religionsfrei leben. Das entstammte
nicht der sozialistischen Planwirtschaft der DDR, das war ein Ergebnis aus mehreren Komponenten:
die im Vergleich zum Katholizismus liberalere Haltung im Protestantismus, die
freidenkerischen Traditionen der Arbeiterbewegung, die Sicherung der Grundversorgung
im Realsozialismus, das ließ die religiösen Bedürfnisse schmelzen. Statt zum
Jesus zu beten, ging man in die ärztliche Ambulanz oder wandte sich an den Parteisekretär.
Die DDR war streng geregelt, strenger als die katholische Kirche: aber säkular.
"Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
.." Ein höheres Wesen war zur Rettung weder vorgesehen, noch gab's
einen Bedarf dafür. Das blieb so und hat sich 1989 weiter in diese Richtung
entwickelt.
Frei von Religion zu sein, ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern
eine extrem vernünftige Art zu leben. Die Menschen in der Ex-DDR haben das in der Praxis
im
Langzeitversuch sehr überzeugend bewiesen.
Nachtrag: Auf einem Kolloqium "Deutsche Einheit und
katholische Kirche" sagte der Erfurter Theologieprofessor Eberhard Tiefensee: "Wenn
Ostdeutschland nun Missionsland
ist, dann trifft christliche Verkündung erstmalig nicht auf andere Religionen, sondern auf ein stabiles
areligiöses Milieu. Dieses Milieu habe sich als hochresistent für Missionsbewegungen
aller Art erwiesen."
Ist das nicht schön?