Denn die Menschen hätten eine neue Freiheit bekommen, weil die Zeit, wo
Religion biografische wie gesellschaftliche Kontexte bestimmt hat, radikal an
ihr Ende gekommen sei. Das bedeute, die Teilhabe an Religion und Kirchen sei
nicht mehr durch überlieferte Strukturen, Machtverhältnisse und gesellschaftliche
Rollen bestimmt, sondern durch individuelle Bedürfnisse.
Was gut beobachtet
ist, früher bedeutete Religion sowohl illusionäre Bedürfnisbefriedigung ("Opium
des Volkes"), als auch gesellschaftlichen Zwang. Der letztere fiel
zuerst von der Staatsordnung her weg (in Österreich durch die Staatsgrundgesetze
von 1867, die Religionsfreiheit auch durch das Recht auf Freiheit von Religion
formal garantierten), blieb aber gesellschaftlich-strukturell aufrecht. Mit
dem Verschwinden der religiösen herrschaftlichen Traditionen (das letzte Mal
herrschte in Österreich die katholische Kirche in der klerikalfaschistischen
Zeit in den 1930er-Jahren) wurde auch der gesellschaftliche religiöse Druck
langsam weniger. Religionsfreie Personen erlangten im Lauf der Jahrzehnte
nicht nur formal, sondern auch in der Lebenswirklichkeit Menschenrechte,
wenn auch längst noch nicht überall und in allen Belangen. Aber ein Kirchenaustritt
bedarf heutzutage nicht mehr eines besonderen Mutes, Kirchenaustritt ist kein
Ausgrenzungsmerkmal mehr. Wir müssen nimmer so tun, als ob wir an Jesus oder an Kim Il Sung glaubten.
Was
will der Theologe nun von Austretern lernen? Er meint, die Kirchen seien
am Markt angekommen und Austreter träfen eine Entscheidung gegenüber "einem
bestimmten Anbieter von Religion, (..) die Produktionsbedingungen von Pastoral
entsprechen nicht mehr den Konsumbedingungen von Pastoral", dafür sei eine
Neuformatierung von Kirche notwendig.
Woran sich zeigt, dass der Herr
Pastoraltheologe die Situation trotzdem gründlich missversteht. Klarerweise
kann ein Austreter nur aus einer Kirche austreten, es wird schließlich kaum
vorgekommen sein, dass ein Baby mehrfach getauft wurde. Der Austritt richtet
sich daher nicht gegen "einen Anbieter", sondern wohl häufig gegen
die Religion an und für sich. Weil wenn es nur um einen Anbieter ginge, müssten
die Leute ja bloß den Anbieter wechseln, also nicht aus-, sondern in eine andere
Kirche übertreten, das wäre sozusagen marktkonform. Keiner Kirche anzugehören,
bedeutet jedoch das Verlassen des Religionsmarktes (abgesehen von Austretern,
die eine organisationslose individuelle Religiöstät pflegen). Ein Raucher kann
von Memphis zu Marlboro wechseln und Raucher bleiben, wenn er aber Nichtraucher
wird, dann ist er weg vom Rauchermarkt. Ein religionsfreier Kirchenaustreter ist religionsbezüglich
ein Nichtraucher. Was will der Pastoraltheologe Bucher von Nichtrauchern über den
Tabakhandel lernen?
Bucher träumt natürlich davon, dass seine religiösen
Waren unentbehrliche Produkte wären. Denn das 2. Vatikanum habe mit dem
universalen Heilswillen Gottes, "ein völlig neues Verhältnis zu den Anderen
angesprochen". Diese Anderen wären mögliche Bündnispartner im "rechten
Aufbau der Gesellschaft und der Rettung der Person". Austreter würfen die
Kirche auf die Frage zurück, wofür sie überhaupt da sei. Damit habe Kirche in
1500 Jahren Machtgeschichte keine Erfahrungen gemacht, müsse es aber nun unter
geänderten Kontextbedingungen tun.
Er versteht also die Situation
überhaupt nicht, er versteht nicht, dass ein Kirchenaustritt in der Mehrzahl
der Fälle auf einen verschwunden oder gar nie vorhanden gewesenen Glauben zurückgeht
und nicht auf schlechtes kirchliches Marketing. Er fragt: "Vertrauen wir
auf die spirituelle und theologische Ressourcen? Setzen wir auf den Heiligen
Geist?" Es sei offensichtlich, dass die Kirche den Ausgetretenen keine
positiven Erfahrungen zur Verfügung stellen konnte. Er fragt weiter: "Warum
haben wir Ausgetretenen keinen neuen Himmel und keine neue Erde eröffnet? Warum
haben wir den Menschen nicht den Weg des Abenteuers mit Gott erschlossen?"
Die
Möglichkeit, nicht an Götter, heilige Geister, Paradiese und Himmel zu glauben,
billigt Bucher den Austretern gar nicht zu. Dass in der heutigen Zeit die
christliche Lehre einfach immer mehr zu einem 2000 Jahre alten Anachronismus
wird, der seine Macht eingebüßt hat und der zunehmend weniger Interesse hervorruft, weil sein Heilsangebot als
skurrile Fantasterei erkannt wird, auf das kann ein Theologe schon von berufswegen
nicht kommen. Weil sonst müsste er kündigen und sich eine richtige Arbeit
suchen. Das könnte er von Kirchenaustretern wirklich lernen.