Publiziert am 3. Juni 2014 von Wilfried Müller auf www.wissenbloggt.de
Heute, am 3. Juni 2014, ist die Sperrfrist abgelaufen, mit der die International Labour Organization
ILO (Bild: ILO) ihren Kurzbericht zurückgehalten hat. Gar so brisant
sind die Fakten nicht, wahrscheinlich dient das dazu, den Prime-Medien
einen einträglichen Vorsprung zu schaffen.
Die Süddeutsche Zeitung bringt das als Weltbericht zur sozialen Sicherung – UN-Arbeitsorganisation warnt vor Sozialabbau in Europa: Die
Internationale Arbeitsorganisation (ILO) warnt eindringlich vor dem
weiteren Abbau staatlicher Sozialleistungen in Ländern der Europäischen
Union. "Zusammen mit anhaltender Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen und
hohen Steuern haben diese Maßnahmen zu mehr Armut und sozialer
Ausgrenzung geführt"
Ein paar Zahlen, die der komplette Bericht (World Social Protection Report 2014-15, 18 MB) in der Executive summary aufführt: 123
Millionen Menschen sind in Europa betroffen, 24 Prozent der
Bevölkerung, viele von ihnen Kinder, Frauen, Ältere und Personen mit
Behinderungen.
In der kurzen deutschen Zusammenfassung
vom Weltbericht zur sozialen Sicherung 2014/15 kann man die ökonomische
Rabulistik nachlesen, mit der sich der Bericht für Wirtschaftler
akzeptabel macht: Die soziale Sicherung spielt eine wichtige Rolle
bei der Verwirklichung des Menschenrechts auf soziale Sicherheit für
alle, für die Verringerung von Armut und Ungleichheit und für die
Unterstützung von inklusivem Wachstum. Sie verbessert das Humankapital
und die Produktivität, stützt die Inlandsnachfrage und erleichtert den
Strukturwandel in Volkswirtschaften.
Humankapital, Produktivität, Inlandsnachfrage und Strukturwandel, das sind die akzeptanzfördernden Schlagworte, die Themen sind Kinder/Familien, Einkommens- und sonstige Sicherheit und Renten.
Was laut Bericht besonders beachtenswert ist, ist die Divergenz. In
reicheren und ärmeren Ländern verläuft die Entwicklung entgegengesetzt.
Viele Entwicklungsländer weiten ihre sozialen Sicherungssysteme aus.
Viele Länder mit hohem Einkommen verringern und kürzen dagegen ihre
Sozialleistungen, sie beschränken den Zugang zu staatlichen Leistungen.
Zusammen mit anhaltender Arbeitslosigkeit, niedrigeren Löhnen und
höheren Steuern haben diese Maßnahmen laut Bericht zu mehr Armut und
sozialer Ausgrenzung geführt, mit den besagten 123 Millionen Betroffenen
allein in Europa.
Am Beispiel von China und Brasilien kann man sehen, wie es richtig
gemacht wird, diese Länder mit mittlerem Einkommen weiten ihre sozialen
Sicherungssysteme aus und erhöhen die Löhne, mit der Wirkung, dass sie
ihre nationale Nachfragege stützten und Wachstum erzielen. Der Bericht
wertet das als eindrucksvolles Lehrstück gegen die Austeritätspolitik
und Bankenbeglückung (Formulierung von wissenbloggt).
Es ist eben nicht zielführend, die Kosten für die Bewältigung der
globalen Finanz- und Wirtschaftskrise an die Bevölkerungen
weiterzugeben, wie die SZ die Tatsache wertet, dass die betroffenen
Länder seit mehr als fünf Jahren weniger Arbeitsplätze und niedrigere
Einkommen verkraften müssten. Die Versprechen der internationalen
Gemeinschaft von 1948, die soziale Sicherheit und Gesundheitsfürsorge zu
grundlegenden Menschenrechten machten, haben sich 2014 für die große
Mehrheit der Weltbevölkerung noch nicht erfüllt.
Dabei haben viele Staaten es laut SZ richtig gemacht, als sie in den
Krisenjahren 2008/2009 Konjunkturförderung betrieben statt
Reichtumspflege (die von der SZ genannte Zahl von 2,4 Billiarden Dollar
dürfte allerdings um den Faktor 1000 zu hoch sein - vermutlich die übliche
Verwechslung bei der Übersetzung aus dem Englischen, richtig: one billion
= eine Milliarde). Und man habe zu
früh mit Haushaltskonsolidierung und Ausgabenkürzungen angefangen.
Dies Thema Austeritätspolitik vs. Konjunkturspritzen ist bei wb abgehandelt in Finanzphilosophie um die Eurokrise herum und Millionen Menschen ins Elend gestürzt.
Der ILO-Bericht sagt wenig Neues gegenüber den dort angegebenen
Quellen, aber er hat das Potential, die Agenda richtig zu setzen.