Der schwerbeschädigte Kapitalismus

Publiziert am 5. 8. 2014 von Wilfried Müller auf www.wissenbloggt.de

In einem wissenbloggt-Artikel vom 31.7. wird die optimistische Sicht wiedergegeben, Warum der Atheismus die Religion verdrängen wird: Die Religion wird durch bessere Einsicht verdrängt, die Ausbreitung der sozialen Marktwirtschaften sorgt für mehr Lebensqualität, so dass die metaweltlichen Placebos der Himmelsversprechungen obsolet werden.

Einige Fakten stehen diesem optimistischen Szenario im Wege. Die soziale Marktwirtschaft soll überall kommen, aber die Globalisierung fördert das Asoziale (siehe Globalisierter Vertrauensbruch). Selbst in Deutschland, das sich als Erfinder der sozialen Marktwirtschaft sieht, herrscht nach 40 Jahren Deregulierung Sozialabbau (siehe Reload 1970). Die Lage ist gekennzeichnet durch "Sozialismus für die Kapitalisten", durch endlose Subventionen von unten nach oben, und weltweit räumt das obere 1% alle Wohlstandsgewinne ab (siehe Der unverdiente Reichtum). Die Selbstbedienung der Manager geht genauso weiter wie das Billigmachen der Arbeitskraft, die Steuerflucht wird immer noch nicht hinreichend bekämpft (Bild: geralt, pixabay), und seit 30 Jahren wachsen Schulden und Vermögen viel stärker als die Wirtschaft.

30 Jahre Stagnation der Arbeitslöhne haben den Binnenmarkt so lange geschwächt, dass sogar die Bundesbank eine Lohnerhöhung von 3% fordert, siehe Bundesbankchef Weidmann fordert Lohnplus von drei Prozent (Süddeutsche Zeitung 30.7.):  Bundesbank-Präsident Weidmann hat klare Vorstellung zur künftigen Entwicklung der Löhne – in einem Interview legt er sich auf ein Plus von drei Prozent fest. Heftige Kritik kommt vom Arbeitgeberverband. Der deutschen Wirtschaft geht es so gut. dass sie sich aus ihren Gewinnen finanzieren kann und kaum noch Bankenkredite braucht; da ist es wohl angebracht, die Gehälter um ein paar Prozent zu erhöhen. Selbst das mögen die Wirtschaftsvertreter nicht zugestehen, obwohl ihnen klar sein muss, wie problematisch die ewige Bevorzugung des Exports vor dem Binnenmarkt ist, siehe Exportweltmeisterschaft angegriffen).

Soweit folgt das noch der kapitalistischen Logik von Marktwirtschaft, Investitionen und Gewinnen. Für ein gedeihliches Miteinander hat die Wirtschaft inzwischen zuviel Macht über die Arbeitskraft, und die Politik ist den Lobbys zu hörig, um das zu ändern. Daran krankt das Modell des freundlichen Kapitalismus' in Form der sozialen Marktwirtschaft. Es gibt zuviel unverdienten Reichtum und zuviel Ungleichheit, beides mit steigender Tendenz. Was für Gebräuche da einreißen, zeigen nicht nur Steuerflucht, Hochfrequenzhandel und Schattenwirtschaft, sondern auch der Artikel Argentinische Ab- und Hintergründe.

Richtig schlimm wird es durch die Machtergreifung der Politik. Die hat die Logik der Ökonomie vielfach ausgehebelt. Ökonmische Gesetze, die den Kapitalismus stark gemacht haben, sind außer Kraft gesetzt. Darüber regiert nämlich jetzt die politische Willkür. Verantwortlichkeiten werden aufgelöst, logische Zusammenhänge getrennt. Und die politischen Eingriffe, Regelübertretungen und Gesetzesbrüche waren niemals gegen die Privilegierten gerichtet, gegen Steuerflucht, Hochfrequenzhandel oder Schattenwirtschaft, sondern immer gegen die Allgemeinheit, die zu phantastischen Subventionen für die Privilegierten gezwungen wurde.

Als 2007 der Bankencrash kam, kam auch der Sündenfall der Politik, vor allem der Euro-Politik. Die Finanzpolitiker haben das Selbstverständliche verhindert, nämlich dass die Handelnden Verantwortung für ihre Handlungen übernahmen. Stattdessen haben die Politiker der Lobby willfahrt und alles umgekehrt. Es zahlte die Allgemeinheit, sie zahlte auch bei der Euro-Krise ab 2009, und sie zahlt immer noch für allerlei Bankenbeglückungsmaßnahmen, siehe Vernichtendes Urteil über die Bankenbeglückung).

Mit über 10 Jahren Verzögerung soll das Selbstverständliche eingeführt werden (sofern die Mühlen des EU-Parlaments irgendwann mal zuendemahlen), nämlich dass Aktionäre und Gläubiger auch dann zuerst haften, wenn ein "systemrelevantes" Unternehmen failliert. siehe Bankenaufsicht + Bankenunion = Machtergreifung). Das wird uns als politische Leistung verkauft, statt als zehnjähriges Versäumnis, das schon beliebig viel Schaden angerichtet hat.

Der Schaden besteht nicht nur in den den Billionen, die verschenkt wurden, und die immer noch nicht zurückgefordert werden. Der Schaden ist auch, dass die Verantwortlichkeit oberhalb der Milliardengrenze abgeschafft wurde. Zugleich  wurde eine Willkürherrschaft etabliert, die das Beseitigen der eigenen Fehler als politischen Erfolg verkauft. Nachdem die Methode Ökonomie (logische Folgen treten ein) durch die Methode Politik (Willkür verhindert logische Folgen, oder auch nicht) ersetzt wurde, ist so gut wie alles zum Verhandlungsgegenstand geworden.

Es darf geschachert werden. Jeder weiß, er ist nicht verantwortlich, wenn er lobbystark ist. Sachfremde Argumente sind willkommen, die Gunst der Stunde kann genutzt werden. Wenn eine Wahl bevorsteht, wenn Migranten sich vor der Tür massieren, wenn ein Skandal die Agenda verbiegt, wenn Posten zu verteilen sind, wenn Querlegen Druck macht – alles regiert in Verhandlungen rein, wo es nach ökonomischer Logik nichts zu suchen hat. Es wird so getan, als ob die Ökonomie ständige politische Nachbesserung bräuchte statt ordentlicher Regeln.

Wie schwer diese Bürde wiegt, wird sich erst herausstellen müssen. Der nächste Crash kann immer kommen, schon wegen den Crashrisiken aus der unendlichen Geldmengenausweitung. Und das Grundproblem vom Euro-Land ist nach wie vor ungelöst: Wie soll die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit ausgeglichen werden? Bisher durch phantastische Opfer der Allgemeinheit zugunsten der Privilegierten, durch Bankenbeglückung, durch Reichtumspflege, durch Sozialismus für die Kapitalisten.

Aber das geht wohl nur einmal. Wenn sich in paar Jahren wieder die Kluft auftut, weil die Leistungsfähigkeit nun mal mehr von der Wirtschaft abhängt und weniger von der Politik, was dann? Wird der schwerbeschädigte Kapitalismus dann nochmal durch die Euro-, Auto- und Plutokraten deformiert? Unangenehme Aussichten.

Noch mehr Links dazu:
Ein Crashkurs für die Euro-Krise
Die Lügen der Euro-Politik
Globaler Reichtum, allgemeine Auszehrung
Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt
Wiedergutmachung auf juristischem Weg