Baden-Württembergs Ministerpräsident denkt zu kurz(fristig)…
Der
baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat
Bedenken zurückgewiesen, wonach in Deutschland eine Islamisierung drohe.
Er stellte die Frage, wie eine Minderheit, die die Muslime derzeit seien,
die Republik kulturell und religiös vereinnahmen sollte, wenn wir doch
auf eine freiheitliche Grundordnung, die Trennung von Staat und Kirche sowie
eine stabile Demokratie setzen könnten, die von den meisten muslimischen
Mitbürgern geschätzt würde. Kretschmann machte die Angst vor
dem Fremden dafür verantwortlich, dass sich Menschen in Deutschland vor
einer Islamisierung Sorgen machten - und gab den fundamentalistischen Strömungen
des Islam die Schuld, die das Bild der Religion in der Öffentlichkeit prägten.
Dabei sei es nicht die Religion, die gefährlich sei, sondern die Diktatur
in verschiedenen Staaten, aus denen die Flüchtlinge zu uns kämen und
die von "paternalistischen Gesellschaften" verstört worden seien.
Mit
seinen Aussagen dürfte Kretschmann sogar bedingt recht haben. Doch sind
seine Überlegungen nicht etwas zu kurz greifend? Und zu sehr auf die
Gegenwart fokussiert? Wie realistisch ist seine Einschätzung, dass es nicht
der Islam selbst sei, vor dem man Angst haben müsse - sondern seine fundamentalen
Kräfte? Ich frage zurück: Weshalb ist es gerade diese Religion,
die sich offenbar so einfach politisieren und instrumentalisieren lässt?
Warum können gerade in islamisch geprägten Ländern offenbar
problemlos Diktaturen entstehen? Und ist es nicht menschlich, dass gegenüber
"Fremdem" zunächst Vorbehalte bestehen? Kretschmanns Einlassungen
sind einseitig. Es mag sein, dass er Bedenken nicht nachvollziehen kann. Das
gibt dem Ministerpräsidenten aber nicht das Recht, anderslautende Meinungen
und Gefühle durch seine recht naive Betrachtung des Islam abzuwerten und
die eigenen Bürger für ihre Unsicherheit ins Lächerliche zu stellen.
Zahlenmäßig
würde es noch Jahrzehnte dauern, bis Muslime die Zahl der Christen und
anderer Religionsanhänger in Deutschland überholten. Doch machen es
allein Minder- und Mehrheiten aus, den Duktus in einem Staat zu gestalten? Gesellschaftliche
Strukturen, ihre Werte und Traditionen, ihr Verständnis von Recht, Freiheit
und Solidarität verändern sich nicht zwingend durch die Menge an Menschen,
die sie vertreten. Viel eher beeinflusst der Anspruch einer Weltanschauung
auf Machtgewinn und Bedeutung, wie rasch sich ein Land wandeln kann. Zweifelsohne
braucht es für solch eine Überzeugung auf Herrschaft und das Sagen
eine fundamentale Einstellung, die nur durch den Respekt vor dem Vorrang weltlicher
Verfassungen und Gesetze zurückgedrängt werden kann. Noch ist Deutschland
hierzu in der Lage. Und man wird dem Christentum und anderen Glaubensrichtungen
sicherlich zugestehen, dass sie nach Säkularisierung und Aufklärung
nicht mehr dafür anfällig sind, sich einer Religion zu unterwerfen,
die diese "Modernisierung" bis heute nicht durchlebt hat - und darüber
hinaus selbst in den eigenen Reihen wenig Widerstandskraft aufzuweisen scheint,
Radikalisierungen zu mäßigen oder gar zu verhindern.
Möglicherweise
ist der Reiz, die eigene Glaubensüberzeugung zu oktroyieren, doch weitaus
größer als der Verstand, der zu Toleranz und gegenseitiger Anerkennung
mahnt. Das würde der Ministerpräsident aus der Perspektive eines demokratischen
Europäers sicher vereinen. Gleichwohl dürfte er diesem begrenzten
Realitätssinn auf den Leim gegangen sein, wenn er die Angst vor einer Islamisierung
kleinzureden vermag. Man könnte es auch als Gutgläubigkeit bezeichnen,
denn ganz offenbar verschließt er die Augen vor den Grundlagen einer Religion,
von der er selbst vor einigen Wochen noch eine "Reformation" gefordert
hat. Dass fundamentale Reihen die öffentliche Wahrnehmung über
den Islam eingenommen haben, ist leider der Beweis dafür, dass Kretschmanns
Worte in sich unstimmig sind. Die Sorge vor einer Islamisierung zu verschmälern,
wenn gleichzeitig in einem freiheitlichen Staat wie der Bundesrepublik radikale
Kräfte des Islams gerade nicht durch "liberale" Muslime oder
das Grundgesetz ausreichend in den Hintergrund zu drängen sind, das ist
nahezu verantwortungslos. Ich empöre mich, mit welchem grundlosen Vertrauen
der Ministerpräsident über Wahrnehmungen der eigenen Bevölkerung
hinweggeht, die selbst manchen Experten getäuscht haben: "Scharia"-Polizei,
Paralleljustizen und Zwangsehen sind offensichtlich - oder müssen gar von
Wissenschaftlern mittlerweile als Tatsachen eingeräumt werden.
Dass
nicht alle Muslime gefährlich sind, dass eine Verallgemeinerung nie weiterhilft
- das wissen wir letztlich alle. Doch nicht nur Kretschmann bleibt mir eine
Erläuterung darüber schuldig, wie es denn zu dem Unbehagen im Volk
kommt. Sind die "Ängstlichen" allsamt Fremdenfeinde? Fehlt ihnen
das "Mutli-Kulti"-Gen? Oder übertreiben sie lediglich, weil es
Radikalisierung - so verstehe ich Kretschmann letztendlich - doch überall
geben kann? Ich frage mich, weshalb fundamentale Kräfte des Christentums
oder des Atheismus dann nicht durch übermäßige Gewalt auffallen,
sondern eher zu den am meisten verfolgtesten Menschen der Welt gehören?
Ja, auch die Bibel ist ein Buch voller Brutalität - und trotzdem rufen
Christen keinen Gottesstaat aus, nutzen keine Waffen für ihre Botschaft
und beanspruchen nicht die Weltherrschaft für sich. Die Anfälligkeit
des Islams erklärt sich durch fehlende Autoritäten, die mäßigend
wirken könnten, ebenso, wie durch ein ergänzendes oder alternatives
Gesellschaftsmodell, das auf weltlichen Regelungen fußt.
Bomben
können die Demokratie im Nahen und Fernen Osten nicht herbeizwingen. Denn
jedwede aufoktroyierte Staatsform wird zum Scheitern verurteilt sein, wenn sie
nicht aus Überzeugung erwächst. Solange es an Denkern fehlt, denen
auch "Hardliner" zuhören und die Religion und Politik sowie Glaube
und Wahrheit im Islam wieder voneinander trennen, zementieren Beschwichtigungen
nur die bestehende Radikalisierung. Ohne majoritären Konsens über
die Beseitigung der Ursachen von Fundamentalismus bleibt es auch selbstredend,
dass diejenigen, die eine Exegese betreiben wollen, die Hetzaufrufe, den Durchsetzungsdrang
oder das Verlangen nach Kontrolle nur schwer mit ihren Botschaften des Friedens
(die der Prophet Mohammed zweifelsohne auch äußerte) verdrängen
können.
Letztlich begibt sich Kretschmann mit seinem - auch aus
seiner alltäglichen Politik bekannten - Stil des Abwartens oder des Aussitzens
in der Frage nach der Islamisierung auf gefährliches gesellschaftspolitisches
Fahrwasser. Das Schönreden einer Religion, die ausschließlich
- und wenn überhaupt - durch eine innere Revolution dorthin gelangen könnte,
wo andere Weltanschauungen heute stehen (nämlich auf dem Grundsatz von
universellen Menschenrechten, Gewaltenteilung und staatlicher Obrigkeit ohne
religiöse Einflüsse), ist gegenüber der eigenen Bevölkerung,
die nicht nur erfahrungsgemäß, sondern aus legitimen Gründen
der Furcht um ihre Grundwerte (und dabei geht es um weit mehr als Tradition,
Brauchtum oder Kultur - sondern um existenzielle Übereinkommen des Zusammenlebens)
zu bangen vermag, eine besondere Verhöhnung des Stimmvolkes.
Wo
sind Kretschmanns Worte an die Muslime, gerade auch an die friedliebenden, die
dazu auffordern, ihre Stimme gegen den Missbrauch ihrer Religion zu erheben?
Wo sind die Ermahnungen zur Verteidigung unseres demokratischen Rechtsstaates,
das bedingungslose Einstehen für Demokratie und Freiheit? Das Bagatellisieren
von Besorgnis der Bürger ist aus meiner Sicht für einen "Landesvater"
deutlich zu wenig - und wird seiner Aufgabe in der Repräsentanz der Bevölkerung,
der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Emotionen, nicht gerecht. Mit dem Aufschrei
über eine Spaltung oder den "Rechtsruck" einer Zivilisation zeugen
Kretschmann und Andere dann nur von ihrer Arglosigkeit: Politik bedeutet auch,
Zusammenhänge zu verstehen. Doch da scheint der Groschen noch nicht überall
gefallen zu sein…