Befreiter Wille?

Publiziert am 11. 2. 2016 von Wilfried Müller auf wissenbloggt.de

In einem Artikel vom 30.1. greift die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein bewährtes Thema auf. Ist das Gehirn fremdgesteuert? Endlich befreit! So schreibt die FAZ, und sie meldet bahnbrechende Erkenntnisse: Entscheidet unser Gehirn unbewusst, ist der freie Wille eine Illusion? Nach Jahrzehnten haben Berliner Hirnforscher die berühmte These mit einem raffinierten Spiel gegen den Computer widerlegt (Bild: geralt, pixabay).

Die Frage war ja immer wieder, ist der freie Wille des Menschen bloß Einbildung? 2004 machte der Neurophysiologe Singer Furore mit der steilen These vom unfreien Willen. In einem FAZ-Artikel behauptete er, Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen. Und zwar, weil er deterministisches Verhalten der Neuronen feststellte. Deterministisch heißt, alles ist vorherbestimmt, also kein freier Wille möglich. Nachdem er 10 Jahre mit dieser physikwidrigen These durch die Medien getourt war, behauptete er in einem Spiegel-Interview, das hätte er nie so gesagt, sondern nur, dass alle Entscheidungen die Folge von vorausgegangenen Hirnzuständen seien, siehe Erfinder des Unfreien Willens schwört ab.

Ein zweiter wissenbloggt-Artikel wendet sich gegen ein noch älteres Argument zur Unfreiheit des Willens, Freier Wille vs. Willusion. Da geht es um Experimente von Oliver Sacks, Benjamin Libet, John-Dylan Haynes und anderen. Diese Forscher fanden ab 1979 heraus, dass das Gehirn bereits Aktivität zeigt, bevor uns bewusst wird, dass wir eine Entscheidung gefällt haben. Der freie Wille sei erledigt, hieß es deshalb, das Hirn treffe die Entscheidung anscheinend vor der Person (Haynes 2008). Wir seien nur "biochemische Marionetten", wo bleibe der bewusste Akteur, der Herr sei über sein eigenes Innenleben?

Das ist das Thema, was die FAZ jetzt in neuer Variation und mit dem alten Protagonisten Haynes abhandelte. Die Inhalte blieben die gleichen wie in dem Spektrum-Artikel vom 20.8.2015, Hirnforschung: Wie frei ist der Mensch? Dafür ist der Anspruch nochmal hochgesetzt, endlich sei das Hirn befreit, es sei raus: Unser Wille wäre stärker, als das Gehirn zeigt!

Um diese Euphorie nachzuvollziehen, muss man nochmal das Libet-Experiment anschauen: Eine Sekunde bevor die Probanden sich bewusst entschlossen, ihre Hand zu bewegen, zeigten die Hirnstromkurven schon das „Bereitschaftspotential“ dafür. Solches wissenschaftliches Material verstoße gegen den gesunden Menschenverstand und die eigene Erfahrung. Doch halt - die Argumentationslage hat sich geändert. Dem gesunden Menschenverstand sei zu vertrauen, so die FAZ, der freie Wille sei nicht totzukriegen, die Libet-Experimente seien obsolet.

Der Experimentator Haynes behauptet, das gemessene "Bereitschaftspotential" sei kein Beweis dafür, dass "der Mensch seine Entscheidungen durch das Gehirn diktiert bekomme", diesen Determinismus gebe es nicht. Immerhin gingen vielen Handlungen bis zu zehn Sekunden vor "der Entscheidung des bewussten Ichs" elektrische Spuren in bestimmten Hirnarealen voraus. Entscheidend sei der Punkt, dass nichts für eine Kausalität spreche, also dass diese Hirnströme das Handeln steuern würden. Das "ominöse Bereitschaftspotential" könne quasi überstimmt werden, die vermeintlich vorbestimmte Handlung könne noch willentlich und aktiv gestoppt werden, so das Ergebnis der "wichtigsten Versuche der letzten dreißig Jahre".

Die Versuche zeigten, dass die Probanden eine Bewegungseinleitung, die durch die Hirnstromkurve signalisiert wurde, noch bis 0,2 Sekunden vorher stoppen konnten. Haynes Aussage dazu: Das bedeute, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt sei als gedacht - soweit der referierte Inhalt des FAZ-Artikels.

Mekrwürdig der Hype, der um so eine graduelle Einschränkungs-Rücknahme veranstaltet wird. Wenn der Wille bis auf 0,2 Sekunden vorher frei ist, dann ist er doch immer noch unfrei? Damit ist der freie Wille doch nicht als Illusion widerlegt, wie die Ankündigung lautet?

Aber das ist gar nicht das Problem bei diesen Interpretationen. Die eigentliche Crux liegt darin, wie die Forscher überhaupt messen wollen, welche Hirnaktivitäten Wille sind und welche nicht? Ein bissel was in der Richtung bringt doch schon die Aussage, dass die gemessenen Hirnströme nicht unbedingt das Handeln steuern würden. Aber wieso wollen die Forscher dann allen Ernstes die bewusste Entscheidung gegen die Hirnstromkurven aufrechnen? Also die Innensicht gegen die Außensicht?

Aufgeklärte wb-Leser sehen hier gleich zwei Fehlinterpretationen. Einmal die dualistische Trennung von Hirn und Person, von Hirnstromkurve und bewusstem Ich, wie sie der Satz ausdrückt, "der Mensch bekommt Entscheidungen durch das Gehirn diktiert."

Zum zweiten stellt sich das Problem der Vermischung von Makroebene und Mikroebene: Aus Sicht der (philosophischen) Makroebene soll der Wille bewusste Entscheidungen verursachen. Auf der Mikroebene ist das Bewusstsein aber der Focus auf die wichtigsten Hirnaktivitäten, und die müssen sich erstmal ausprägen, damit sie ins Bewusstsein vordringen können. Es ist also logisch, dass sich erst die Hirnströme aufbauen, ehe das Bewusstsein davon berührt wird.

Links dazu:
Noodle bobble 2/I – Bewusstseinsraum wie das Bewusstsein funktioniert
Nachgedanken zum Freien Willen
Quantenbiologie: besseres Leben durch Quantenmechanik Quanten im Bio-Einsatz
Entscheidungsverarbeitung physikalische Repräsentation des Willens
Quanteneffekte und Freier Wille physikalische Grundlage des Willens
Emergenz und freier Wille
Dem sogenannten „freien“ Willen zum Abschied … ungewollt
Hintergrundüberlegungen zur „Willensfreiheit“ aus Makro-Sicht