Als die Türken zum letzten Mal vor Wien standen, war das Habsburger-Kaiserreich
eine europäische Führungsmacht. Das heutige nette Österreich
führt wesentlich sich selbst. Doch immerhin: Als die Flüchtlinge aus
Syrien, Afghanistan und dem Irak vor den Toren der Europäischen Union standen,
da schien es zu einem Habsburger-Reflex zu kommen: Gemeinsam mit Ländern
wie Slowenien, Kroatien und Mazedonien beschloss die Alpenrepublik, die Balkan-Flüchtlings-Route
dicht zu machen. Und bot damit der neuen und eigentlichen europäischen
Kaiserin, Angela der Alternativlosen, die Stirn. Vor allem aber brachte
diese Grenzschließung die Türkei ins Spiel: Die türkische Republik,
auf dem Weg zurück zum osmanischen Reich, sollte den Türsteher der
EU spielen. Aber der Karikatur osmanischer Sultane reichte der Satz "Du
kommst hier nicht rein" keineswegs, er ergänzte ihn um "Ich will
auch was sein" und so stehen die Türken erneut vor Wien, nicht mit
Kanonen sondern mit dem türkischen Außenminister, Mevlüt Cavusoglu,
der dem aktuellen Bundeskanzler, Christian Kern, Rassismus vorwarf. Weil der
die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stoppen will. Also wird dem
Türsteher der Eintritt in die exklusive EU-Bar ebenso verweigert, wie dem
Pöbel aus den Kriegsländern. Ginge es nicht um Menschenleben, um Flüchtlingsschicksale,
um Leben und Tod, könnte man lachen.
Absolut nicht lächerlich
ist der geplante Besuch des US-Außenministers John Kerry in der Türkei.
Die frische Diktatur wird mit dem Besuch der westlichen Führungsmacht geadelt.
Selbst wenn Kerry am Rand des Staatsbesuches ein zartes DuDuDu von sich geben
sollte, ein Laut, den man weder rund um die brutale Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste
hatte hören können, noch bei den Massenverhaftungen der letzten Tage,
läuft alles wie immer: Auf dem NATO-Stützpunkt im türkischen
Incirlik werden die mörderischen Geschäfte zur Herstellung von Flüchtlingen
so weiter betrieben, als sei in Ankara und Istanbul nichts geschehen. Schon
mehrfach hatte die türkische Regierung beklagt, dass seit der Niederschlagung
des Putsches kein westlicher Außenminister in die Türkei gereist
sei, um seine Unterstützung zu demonstrieren. Die TRT (Türkiye Radyo
ve Televizyon Kurumu), die staatliche türkische Verlautbarungs-Anstalt,
zitiert jetzt den türkischen Außenminister, der großzügig
den "Wunsch von Kerry, am 24. August nach Ankara zu kommen", angenommen
habe, da er in den Zeitplan der Türkei passe.
Im Zeitplan der
Europäischen Union ist der Beitritt der Türkei seit dem Dezember 1999
vorgesehen. So, wie man die EU-Bevölkerung weder über die Verfassung
der Union hatte abstimmen lassen, so war auch keine Willensäußerung
der Menschen in der Türkei vorgesehen: Einen Willen dürfen immer nur
die Eliten haben. Wer die türkische Arbeitsmigration kennt, darf sie
getrost für ein Votum mit den Füßen halten: Neben den drei Millionen
Menschen türkischer Herkunft in Deutschland, ist die Zahl türkischer
Migranten in Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und auch in
Österreich beträchtlich. Es blieb, wie jüngst auch an der Pro-Erdogan-Demonstration
zu sehen, ein Arbeits-, kein Liebesverhältnis. Denn die gastgebenden Regierungen
sahen sich über Jahrzehnte nicht als Einwanderungsländer. Die Türken
sollten fleißig arbeiten und dann schnell gehen. Das zwiespältige
Verhältnis vieler türkischer Kollegen zur EU: Zum Arbeiten gut, zum
Leben schlecht, lässt sie bis heute zur Manövrier-Masse türkischer
Außenpolitik werden. Mit den Beitrittsverhandlungen und einer offenen
Einwanderungspolitik hätte eine demokratisch interessierte EU längst
Einfluss auf die Türkei nehmen können. Einfluss nehmen auf ein Land,
dessen islamische Bevölkerung nicht durch den sektiererischen, saudischen
Wahabitismus geprägt ist, sondern sich, im Ergebnis der Atatürk-Reformen,
einem europäischen Laizismus mehr und mehr näherte. Aber die Türkei
war und ist den Spitzen der EU nur als Partner in der NATO lieb und als Absatzmarkt
teuer, ein anderes Interesse kann eine von den USA dominierte und von wirtschaftlichen
Absichten geprägte Gemeinschaft nun mal nicht aufbringen.
Der
österreichische Bundeskanzler Christian Kern hat jetzt den Abbruch der
Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei gefordert: "Die Beitrittsverhandlungen,
wie sie jetzt laufen, sind eigentlich nur noch eine diplomatische Fiktion. Wir
wissen, dass die demokratischen Standards in der Türkei bei weitem nicht
ausreichen", das hört sich beinahe antidiktatorisch an. Aber der brave
Sozialdemokrat Kern gibt nur dem Druck einer rechten österreichischen Öffentlichkeit
nach, an deren Herstellung die SPÖ in den vielen Jahren ihrer Regierungsteilhabe
beteiligt war. Der zweite Satz des Statements lässt die demokratische Tünche
schnell blättern: "Aber mindestens so gravierend ist auch die wirtschaftliche
Frage, weil die Volkswirtschaft der Türkei so weit weg von einem europäischen
Durchschnitt ist, da gibt es solche wirtschaftlichen Disparitäten, dass
wir einen Beitritt schon aus einfachen ökonomischen Gründen wahrscheinlich
kaum rechtfertigen könnten." Als wären die ökonomischen
Standards in Ungarn, Rumänien oder Bulgarien zum Beispiel um so vieles
besser gewesen, als man sie mit Kusshand in der EU aufgenommen hatte. Als hätten
die "Tschuschen" in Südosteuropa eine ordentliche Mitgift in
die Ehe mit der EU eingebracht und wären nicht aus einem einzigen Grund
aufgenommen worden: Sie waren noch nicht in der NATO, das sind die Türken
aber schon seit 1952.
So wiederholt sich die Geschichte nur scheinbar:
Mehr als 300 Jahre nach der letzten türkischen Belagerung Wiens darf sich
der österreichische Allerweltsfunktionär Christian Kern als Nachfolger
von Kaiser Leopold I. aufführen, während Recep Tayyip Erdoğan in der
Rolle Kara Mustafa Pascha stümpert: Geschichte wiederholt sich als
Farce. Aber es ist eine gefährliche Inszenierung in der auf beiden Seiten
nationale Vorurteile mobilisiert werden, um schlichte Interessen zu maskieren.
Das Interesse der EU-Eliten besteht wesentlich darin, von ihrer Verantwortung
für die Flüchtlinge abzulenken. Jenes des türkischen Diktators,
aus der Rolle als Randfigur in die Mitte der Bühne zu kommen. Außerhalb
des schäbigen Polit-Theaters gehen Kriege und Flucht einfach weiter.