Vor ein paar Tagen informierte der Abgeordnete Gehrcke (Die LINKE) die RATIONALGALERIE
über einen Briefwechsel mit der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Gehrcke monierte,
dass die SZ jüngst in einem ganzseitigen Artikel von Julian Hans behauptete,
in Russland gäbe es fast keine Opposition, um dann aber Wladimir Kara-Mursa
zum letzten Oppositionellen zu stilisieren. Von der kommunistischen Opposition
zum Beispiel wußte der Autor offenkundig nichts. Obwohl er dem Vernehmen
nach in Moskau wohnen soll. Statt sich zu Gehrckes Kritik zu äußern,
fiel dem wenig begabten Hans als Antwort nur haltloses Geschimpfe aus dem Mund.
Um der schweren Bildungslücke der SZ, die hier nur für andere deutsche
Mainstream-Medien steht, abzuhelfen, baten wir Christiane Reymann und Wolfgang
Gehrcke um Nachhilfe.
Hier ist das Ergebnis:
Die russische
Regierung lässt kein Fettnapf aus. Nichts, aber auch gar nichts kann sie
dem Westen recht machen! Schlägt Präsident Medwedjew einmal etwas
Vernünftiges vor – sein Aufruf, in Zeiten der wirtschaftlichen Krise möglichst
wenig Geld für den Wahlkampf und besser für andere Zwecke auszugeben,
ist nicht ganz unvernünftig – dann wird das zu einem Instrument der Entpolitisierung
oder, wie es Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige
Politik (DGAP) in der Zeit gastkommentiert: "Teilweise wurde der Eindruck
erweckt, dass so wenig Menschen wie möglich überhaupt mitbekommen
sollten, dass diese Wahlen stattfinden". Hinzu kommt eine zweite Enttäuschung:
Die als sicher prognostizierten massiven Wahlfälschungen fanden nicht statt.
Unregelmäßigkeiten ja, aber die Duma-Wahlen seien im Großen
und Ganzen "in einer ordnungsgemäßen Weise" durchgeführt
worden, so der finnische OSZE-Gesandte Ilkka Kanerva. Schwere Zeiten für
Mainstreammedien und Kaffeesatz lesenden Politanalysten. Sie mussten andere
Brüller zu den Duma-Wahlen (er-)finden. In schrillem Gleichklang wurden
sie fündig:
"Erdrutschartig" (Spiegel Online, 19.09.16)
die Machtverschiebung zugunsten der Kreml-Partei "Einiges Russland",
sie erdrücke alles, die Opposition sei marginalisiert. Alles so ganz anders
als bei uns? In Russland entfallen 76 % der Parlamentssitze auf "Einiges
Russland", 9,3 % Prozent auf Kommunisten (KPRF), 8,6 % auf Rechtspopulisten
(Schirinowskis Liberaldemokraten LDPR) 5 % auf das sozialdemokratische "Gerechte
Russland" und 0,4 Prozent auf zwei einzelne Abgeordnete. Im Bundestag hat
die GroKo die verfassungsändernde Mehrheit von 75 Prozent, die restlichen
25 Prozent teilen sich Linke und Grüne. Hier wie dort erschwert eine so
große Regierungsmehrheit die Arbeit der parlamentarischen Opposition erheblich,
aber nur in Russland zeugt sie von der generellen Abwesenheit von Opposition.
Schon vor den Wahlen widmete die Süddeutsche (15.09.16) dieser Leerstelle
ihre Seite drei unter der Überschrift "Last Man Standing. Keine Opposition
in Russland – fast". Im Mittelpunkt Wladimir Kara-Mursa, in Russland Repräsentant
der Michail Chodorkowski-Stiftung "Offenes Russland", die für
die Duma-Wahl 25 Einzelkandidaten ausgewählt und finanziert hat. Sie bilden
die "echte" Opposition, während die Minderheitsparteien in der
Duma im besten Fall "Kremlparteien" seien. Eine eigenwillige Interpretation
von "Opposition" und eines der vielen Muster, wie Russlandphobie zu
einer gestörten Wahrnehmung führt. Ein Beispiel: Die KP Russlands
ist mindestens so oppositionell wie die Grünen im Bundestag: Wie jene,
teilt sie im Wesentlichen die Außenpolitik der Regierung, innen- und sozialpolitisch
gibt es Differenzen; im Unterschied zu den Grünen hat die KP eine gänzlich
andere Idee von Gesellschaft als die Regierung. Doch für die SZ (und die
Mainstream-Medien) ist für Russland der Begriff "Opposition"
jenen vorbehalten, die einen brutal raubenden und plündernden Kapitalismus
anstreben, wofür wiederum Michail Chodorkowski steht, der diese Art Opposition
von Großbritannien aus finanziert. Er ist einer der ganz großen
Profiteure der brutalst möglichen Privatisierung unter Jelzin, dessen Tochter
er jetzt zur russischen Präsidentin machen will. Na, Prost dann!
Ach
ja, Michail Chodorkowski unterstützt auch Jabloko, die Lieblingspartei
der westlichen Medien. Dieses mal scheiterte sie mit 2 % an der fünf-Prozent-Hürde.
Sie hatte schon besser Zeiten erlebt. Doch wie ihre Förderer, bleibt auch
sie aus Sicht der Bevölkerung verbunden mit der mafiösen Verschleuderung
des russischen Volkseigentums. Als die Duma und das russische Verfassungsgericht
diesen Kurs stoppen wollten, ließ Jelzin im Oktober 1993 das Parlament
beschießen und erstürmen und verkündete – verfassungswidrig
– den Notstand. "Ein Sieg der Demokratie", nicht nur für die
Washington Post. Die Folgen sind bekannt: Raub, Enteignung in gigantischem Ausmaß,
während nach Angaben der Weltbank Mitte der neunziger Jahre 74 (von insgesamt
143) Russen unterhalb der Armutsgrenze lebten. Doch bis zu seiner Ablösung
als Präsident 1999 blieb Boris Jelzin, schwer alkoholkrank mit Zugriff
auf Atomraketen, der Progressive mit, wie es Bill Clinton es seinerzeit ausdrückte,
"echter Hingabe an Freiheit und Demokratie, echter Hingabe an Reformen",
während sein Nachfolger Putin wieder zum russischen Bären mutierte,
antidemokratisch, autoritär, kriegerisch.
Die Duma-Wahlen zeigen
zugleich tatsächliche Probleme der russischen Gesellschaft: die niedrige
Wahlbeteiligung von unter 50 (47,8) Prozent, in Moskau sogar unter 30 Prozent,
offenbart eine Kluft zwischen Politik und Wählern. Die Übermacht der
Regierungspartei kann zu einem eigenen Fallstrick werden, wenn sie die Mehrheitsverhältnisse
im Parlament mit denen in der Bevölkerung verwechselt. Was die Stärke
der rechten Nationalisten betrifft, ist Russland sozusagen in der europäischen
Normalität angekommen. Schirinowski und seine LDPR sind durchaus vergleichbar
mit Wilders in den Niederlanden, der AfD in Deutschland, Le Pen in Frankreich
und ähnlichen Parteien in Osteuropa. Die Flüchtlingsfrage spielt auch
in Russland eine erhebliche Rolle, allerdings nicht in Form von real geflüchteten
Ukrainern, sondern in imaginärer Angst vor Flüchtlingen aus arabischen
oder asiatischen Ländern. Tschetschenien, der Kaukasus-Konflikt ist noch
immer eine offene Wunde und die Angst, dass bewaffnete Auseinandersetzungen
wieder aufflammen könnten, alltäglich.
Drei Mega-Probleme
dominierten die jüngste Duma-Wahl: Die militärischen Auseinandersetzungen
in der Ukraine inklusive der Sanktionspolitik der EU, der russische Militäreinsatz
im Nahen Osten und die soziale und wirtschaftliche Krise in Russland selbst.
Auf den ersten zwei Gebieten findet die Politik der Regierung offensichtlich
die Billigung der Wählerinnnen und Wähler wie der drei anderen in
der Duma vertretenen Parteien. Auch in Russland führen soziale Verwerfungen
(noch?) nicht zum selbstbewussten außerparlamentarischen Protest und zum
Aufschwung von Linkskräften. Wir fragen uns zudem, ob die Zustimmung der
KP zur Politik des Präsidenten in Sachen Ukraine, Krim, EU-Sanktionen und
Syrien die Differenzen in der sozialen Frage und die Idee eines "Sozialismus
des 21. Jahrhunderts", den die KP anstrebt, hat verschwimmen lassen.
Der
Westen hat zum hohen Wahlsieg von "Einiges Russland" beigetragen.
Seine Politik der Sanktionen und der Einkreisung Russlands durch NATO und EU
hat das Präsidialsystem und Putin selbst gestärkt.
Die
politische Linke in Westeuropa ist mit den russischen Verhältnissen eher
wenig vertraut. Beide Seiten brauchen mehr Kenntnis voneinander, mehr Diskussion
und Zusammenarbeit. Das antirussische Ticket hingegen schwächt die Linke,
vergiftet das politische Klima und gefährdet den ohnehin brüchigen
Frieden.
Wolfgang Gehrcke, MdB DIE LINKE
Christiane Reymann, Autorin
und Aktivistin