Ratzingers "Letzte Gespräche"

Gerhard Oberkofler am 26.9.2016 auf der Homepage der DKP über Benedikt XVI., Peter Seewald - Letzte Gespräche Droemer / Knaur 2016:

Alt gewordene Professoren lieben es, sich in aller Öffentlichkeit ihrer Anfänge im akademischen Leben zu erinnern; so auch ein über Freising, Bonn, Münster, Tübingen, Regensburg und München schließlich nach Rom als Sanctitas Sua berufener deutscher Professor der römisch katholischen Theologie. Die Rede ist vom emeritierten Papst Benedikt XVI., bürgerlich Joseph Aloisius Ratzinger, und die vom ihm in Buchform angebotenen "Letzte Gespräche".


Fotomontage Ratzinger/Adenauer © DKP

Welche Er- und vor allem Bekenntnisse liefert Ratzinger mit seinem jüngsten Werk in Interviewform? Zum Beispiel das Bekenntnis zum "überzeugten Adenauerianer", der sich ausdrücklich mit der von diesem Regime betriebenen Anbindung an die US-amerikanischen Geschäfts- und Kriegsinteressen identifiziert. So war Ratzinger 1959 bis 1963 Ordinarius für Fundamentaltheologie in Bonn. Bonn gehörte zum Bistum Köln unter Leitung von Kardinal Joseph Frings (1887-1978), dessen Konzilsberater Ratzinger wurde. Frings hatte die Hetzschriften des Jesuitenpaters Johannes Leppich (1915-1992) gegen die satanischen Kommunisten das Imprimatur erteilt. "War nicht Karl Marx ein Jude!", so ruft Leppich SJ als Wanderhetzer und in seiner 1964 erstmals aufgelegten Schrift "Atheisten Brevier" den deutschen Katholiken in Erinnerung und bemerkt: "Der Kommunismus ist die größte und gefährlichste Häresie der Weltgeschichte. […] Das ist der raffinierteste Schachzug Satans, daß er durch die Verheißung eines sozialen Paradieses täuscht, durch seinen Chiliasmus". Ratzinger hat ein solches Denken nach Rom mitgenommen.

Befreiungstheologen, die in ihrer Treue zur Nachfolge von Jesus von Nazareth (+30 u. Z.) mutig und revolutionär Partei für die Armen und Unterdrückten nahmen und sich mit Karl Marx (1818-1883) für eine Veränderung der Verhältnisse im Sinne der 11. Feuerbachthese bekannten, wurden vom Theologieprofessor Ratzinger abgelehnt, weil sie sich weigerten, sich dem lehramtlichen Diktat aus dem Vatikan zu unterwerfen. Ein Dialog darüber wurde vom Vatikan weder angestrebt noch geführt. Weshalb auch - die Rangordnung war gegeben. Als 1981 vom polnischen Papst Johannes Paul II. (1920-2005) ernannter Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre hat Ratzinger in einer Instruktion die von der marxistischen Analyse inspirierten Schlussfolgerungen der Befreiungstheologie für die revolutionäre Umkehrung der Geschichte scharf zurückgewiesen (6. August 1984). Schon in seiner Osterpredigt 1979 im Münchener Liebfrauendom hat Ratzinger als Erzbischof von München gegen die Befreiungstheologie gepredigt, "Strategien des Klassenkampfes und einer Bewusstseinsbildung, die auf die Weckung des Neides abzielt" seien "Strategien des Todes". Kardinal Joseph Höffner (1906-1987), früher Theologieordinarius, gab diesem negativen Gutachten seines Kollegen Ratzinger am 24. September 1984 bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz noch eine spezielle Note, indem er unterstellte, die Befreiungstheologie würde sich im Klassenkampf auf Gewalt kaprizieren. In ihrem Gutachten argumentiert dieser deutsche Oberlehrer, "die Option der Befreiungstheologie für die marxistische Analyse ist keine wissenschaftliche, sondern eine emotionale Entscheidung", das könne nicht die Grundlage der Theologie sein. Überhaupt, "die Frohbotschaft Christi kann nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse ausgerichtet sein". Zu den aus der Perspektive der Opfer geschriebenen und im Kontext der "Kirche der Armen" stehenden Werken des Befreiungstheologen Jon Sobrino SJ (*1938) gab Ratzinger als Papst Benedikt XVI. noch eine eigene "Notifikation" als Verwarnung hinaus. Weshalb gegen Jon Sobrino SJ und nicht zum Beispiel gegen Ignacio Ellacuría SJ (1930-1989), haben doch beide gemeinsam das fundamentale Werk Mysterium Liberationis herausgegeben?

Die Antwort darauf gibt Ratzinger in seinen "Letzten Gedanken" selbst. Von seinen sehr vielen Begegnungen mit Zeitgenossen hebt er jene mit Vaclav Havel (1936-2011) und Shimon Peres (1923-2016) als besonders nachhaltig hervor. Bei Havel habe er bewundert, was dieser "über das Verhältnis der Politik zur Wahrheit sagt", Peres bewundere er wegen dessen "lauterer Menschlichkeit und Offenheit". "Politik zur Wahrheit"! Am 21. Februar 1990 hielt Havel vor beiden Kammern des US-Kongresses eine siebzehnmal durch Ovationen unterbrochene Rede, in welcher die USA als Verteidiger von Freiheit, Stabilität und Sicherheit in der Welt bejubelt wird. Wenige Wochen zuvor, am 16. November 1989, waren in El Salvador sechs vom Ethos der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten angeleitete Befreiungstheologen in der dortigen Jesuitenkommunität als Dissidenten des US-Imperialismus von dessen Henkersknechten ermordet worden, und zwar: Ignacio Ellacuría SJ (1930-1989), von Ignacio Martín-Baró SJ (1942-1989), Segundo Montes Mozo SJ (1933-1989), Amando López Quintana SJ (1936-1989), Juan Ramón Moreno Pardo SJ (1933-1989) und Joaquín López y López SJ (1918-1989). Sobrino SJ war zufällig gerade nicht anwesend gewesen. Havel hat als Leitfigur des europäischen Moralismus dazu und zu dem ebenfalls einige Wochen vor seiner Rede erfolgten blutigen Kolonialeinmarsch der USA in Panama geschwiegen. Knapp zehn Jahre später begrüßte Havel ausdrücklich die völkerrechtswidrige NATO-Bombardierung am Balkan, wozu er tschechische Logistik zur Verfügung gestellt hat. Dieses bewusste Verschweigen welthistorischer Verbrechen stört das Wahrheitsempfinden Benedikt XVI. sichtlich ebenso wenig wie die unter dem Nobelpreisträger Shimon Peres fortgeführten Gewaltverbrechen in den palästinensischen Besatzungsgebieten oder auf dem Territorium des Libanon. Das Bündnis der römisch katholischen Kirche mit den Kräften des Imperialismus bleibt für Ratzinger jederzeit die Hauptlinie. 2007 spricht er massenhaft katholische Priester und Ordensleute, die im spanischen Bürgerkrieg an der Seite des spanischen Faschismus gestanden sind, selig.

In einem Anflug von Altersavantgardismus äußert sich Benedikt XVI. kritisch über den "etablierten und hochbezahlten Katholizismus" in Deutschland, wenngleich er vergisst hinzuzufügen, dass er selbst Funktionär dieses korrupten deutschen Establishments war und ist. Die von Ratzinger dargestellte Auseinandersetzung mit dem Schweizer Hans Küng (*1928) stellt sich nicht mehr als ein Streit zwischen zwei ebenso unfehlbaren wie eitlen Ordinarien innerhalb dieses europäischen Komfortkatholizismus dar.

Der historisch konkreten Nachfolge von Jesus von Nazareth steht Professor Ratzinger alias Benedikt XVI. in seinen "Letzten Gedanken" völlig fern, er gibt im Gegensatz zu Papst Franziskus (*1936) nirgends Anlass zur Hoffnung für die Opfer dieser brutalen Welt. Benedikt XVI. würde gerne, wie er erzählt, das Motto des Professor Ratzinger als Inschrift auf seinem Grabstein sehen: "Mitarbeiter der Wahrheit". Es ist das die Wahrheit der römisch katholischen Kirche als eine der weltanschaulichen Fundamente des imperialistischen Weltsystems, eine Wahrheit, die fern der konkreten historischen Wahrheit und damit fern der evangelischen Wahrheit ist. Was für ein Unterschied zum würdigen Nachdenken über das, was bleibt, von Seiten des vielleicht größten Marxisten des vorigen Jahrhunderts Bertolt Brecht (1898-1956): "Ich benötige keinen Grabstein, aber / Wenn ihr einen für mich benötigt / Wünschte ich, es stünde darauf: / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie angenommen. / Durch eine solche Inschrift wären / Wir alle geehrt /". Der Theologe Andreas Batlogg SJ meint, dass Benedikt XVI. mit dieser Wortmeldung die mit Papst Franziskus verknüpften Hoffnungen beschädigt und folgert im Deutschlandfunk, dass es dieses Buch eigentlich nicht geben sollte. Es gibt es aber und es ist zudem ein wichtiges Dokument der von Ratzinger repräsentierten hegemonialen römisch katholischen Theologie, die für die Menschheit nur die Zementierung von Elend bedeutet.