Die Otto Brenner Stiftung
OBS hat eine Analyse der Flüchtlingsberichterstattung vorgenommen, die
auf scharfe Kritik an den Leit- und Mainstreammedien hinausläuft. Die
meisten Leute haben wohl gemerkt, dass es in den meisten Medien nicht
redlich zuging, und dass einseitig und verzerrt berichtet wurde. Jetzt
wurde das von unverdächtiger Seite wissenschaftlich nachgewiesen. Ein
krasses Résumé aus der Analyse in freier Wiedergabe: Wäre es der
Zweck des Informationsjournalismus', dem Publikum Intentionen und
Strategien der politischen Akteure zu vermitteln, dann hätte er diese
Aufgabe nach den Erkenntnissen der Forschungsergebnisse aufs beste
erfüllt. Das sei nun allerdings eine Leistung, die von der Politik-PR zu
erbringen ist.
Mit anderen Worten, die Medien haben Polit-PR für die etablierten Parteien getrieben. Darüber hinaus fand ein medialer Diskurs mit den hauptsächlich Betroffenen nicht statt – gravierende Vorwürfe speziell an die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt (während die Neue Züricher Zeitung auch gelobt wird). Nachzulesen ist das Résumé auf S. 139 (und der fehlende Diskurs u.a. auf S. 135) der Studie: Michael Haller – Die "Flüchtlingskrise" in den Medien – Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information – Eine Studie der Otto Brenner Stiftung – Frankfurt am Main 2017
Die Nutzungsbedingungen der Studie erlauben keine Zitate, selbst für
wissenschaftliche Zwecke müsste vollständig und unverändert zitiert
werden. Die besonders interessanten Exzerpte von wb dürfen daher nicht
publiziert werden. Immerhin gibt es eine OBS-Pressemitteilung
vom 24.07.2017, "Flüchtlingskrise" und "Willkommenskultur" – OBS
analysiert die Flüchtlingsberichterstattung und dokumentiert erhebliche
Defizite bei den "Mainstreammedien":
+++ Die Informationsmedien sind in der Berichterstattung 2015/16 über
Flüchtlinge ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden +++ Sie waren mehr
"politischer" Akteur als neutraler Beobachter +++ tief greifende Sinn-
und Strukturkrise des sogenannten Mainstreamjournalismus dokumentiert
+++ Lebenswelt des Publikums spiegelt sich nicht ausreichend in der
Medienwelt wider +++ medienkritische "Pionierarbeit" von Prof. Haller
jetzt erschienen +++
Frankfurt am Main – Im September 2015 schrieb die Neue Zürcher
Zeitung über die Flüchtlingsberichterstattung deutscher Journalisten:
"In moralischen und emotionalen Ekstasen steigerten sich die deutschen
Medien mit wenigen Ausnahmen in einen Überbietungswettbewerb um Empathie
und Willkommenseuphorie hinein, ohne Gedanken an den Überdruss, den
derlei beim Leser erzeugen kann."
Hatte dieser neutrale Beobachter Recht? Gab es im Wahrnehmungsfeld
der deutschen Journalisten einen blinden Fleck, der ihre Sicht dermaßen
verzerrt hat? Diese Frage stand am Anfang einer Studie über die
Flüchtlingsberichterstattung deutscher Informationsmedien. Autor der
OBS-Studie ist der über Fachgrenzen hinaus renommierte sowie
international profilierte Wissenschaftler Prof. Dr. Michael Haller
(Hamburg, Leipzig).
Ein zentraler Befund der laut OBS medienkritischen "Pionierarbeit"
ist, dass große Teile der Journalisten ihre Berufsrolle verkannt und die
aufklärerische Funktion ihrer Medien vernachlässigt haben.
Studienleiter Prof. Dr. Michael Haller konkretisiert: "Statt als
neutrale Beobachter die Politik und deren Vollzugsorgane kritisch zu
begleiten und nachzufragen, übernahm der Informationsjournalismus die
Sicht, auch die Losungen der politischen Elite". Ihn interessierte das
Politiker-Gezänk in Berlin weit mehr als die Sorgen und Ängste weiter
Teile der Bevölkerung – mehr als die Nöte der nach Deutschland
gekommenen Flüchtlinge und Asylbewerber, mehr auch als die Probleme der
Organisatoren und Helfer vor Ort, so ein wichtiges Ergebnis der
innovativen Untersuchung. Erst nach der Silvesternacht 2015/16, so
Michael Haller weiter, "entdeckten die Medien die reale Wirklichkeit
hinter der wohlklingenden Willkommensrhetorik". Doch da war der
öffentliche Diskurs längst weitgehend von der Tagesordnung verschwunden.
Andersdenkende sahen sich übergangen oder ausgegrenzt. Statt integrativ
zu wirken, hatte der Informationsjournalismus die Frontenbildung
verschärft – so ein weiteres Ergebnis.
"Die Flüchtlingskrise in den Medien" ist die bislang umfassendste und
methodisch aufwendigste Untersuchung zum Thema. Weit über 30.000
Zeitungsberichte wurden erfasst, Längsschnittanalysen zurück bis ins
Jahr 2005 unternommen, die Berichte der Newssites wie auch der
Leitmedien minutiös auseinandergenommen und akribisch analysiert. Die
Befunde wurden nach Maßgabe wissenschaftlich gesicherter Modelle über
die Funktion des Journalismus in der Demokratie beleuchtet und
interpretiert.
Der Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung, Jupp Legrand, hebt
hervor, dass im Gegensatz zu vielen "öffentlich geäußerten Mutmaßungen
oder vorschnellen Urteilen die Ergebnisse der Studie auf einer
intensiven Auseinandersetzung mit Quellen aufbauen und auf der
kritischen Analyse breiter Daten fußen". Gleichzeitig warnt die Stiftung
davor, die in dieser Studie aufgezeigten Fehlleistungen für eine
generelle Journalistenschelte zu missbrauchen. "Viele Journalisten",
urteilen Haller und Legrand, "haben herausragende Berichte geschrieben,
viele Medien haben sich um präzise, aktuelle Berichterstattung
gekümmert".
Was die methodisch anspruchsvolle Erhebung aber aufzeigt, reiche
tiefer: "Ihre Ergebnisse verweisen auf eine Sinn- und Strukturkrise der
sogenannten Mainstreammedien", analysiert Michael Haller und stellt
fest: "Die von den Journalisten beschriebene Wirklichkeit ist sehr weit
entfernt von der Lebenswelt eines großen Teils ihres Publikums". Die
Befunde belegen die große Entfremdung, die zwischen dem etablierten
Journalismus und Teilen der Bevölkerung entstanden ist.
OBS-Geschäftsführer Legrand verknüpft mit der Publikation der
Studienergebnisse die Hoffnung, "dass die Ursachen des Bruchs im
öffentlichen Diskurs weiter untersucht und bewertet werden". Denn, so
auch Forschungsleiter Haller, "das Anliegen dieser Studie dreht sich um
die Frage, wie gesellschaftliche Verständigung wieder gelingen kann".
Michael Haller: Die "Flüchtlingskrise" in den Medien – Tagesaktueller
Journalismus zwischen Meinung und Information; OBS-Arbeitsheft Nr. 93,
Frankfurt am Main; Juli 2017