Radio Vatikan und die Kirchen-&Demokratiekrise

Am 7.8.2017 berichtete Radio Vatikan unter dem Titel "Krise von Demokratie und Religion hängen zusammen" über einen Vortrag des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa zum Abschluss der Salzburger Hochschulwochen

Radio Vatikan: Die gegenwärtige Krise der Demokratie und der politischen Öffentlichkeit und die Krise, die die christlichen Kirchen in Form von Relevanz- und Gläubigenverlust erfahren, hängen miteinander zusammen. Diese These vertrat Hartmut Rosa (..). Fluchtpunkt beider Krisen sei nämlich ein Verlust an "Resonanzfähigkeit", d.h. der Verlust der Fähigkeit, "sich vom Anderen und von anderen affizieren, berühren zu lassen".

Atheistische Anmerkung: "Affizieren" bedeutet laut Duden "bewegen, reizen; auf jemanden Eindruck machen, sich übertragen". Es ist sprachlich mit dem "Affekt" verwandt, der im Duden als "heftige Erregung, Gemütsbewegung; Zustand außergewöhnlicher psychischer Angespanntheit" definiert wird, man sollte daher wohl vorsichtig sein, affiziert zu werden, "affiziert" wird nämlich mit "gereizt" umschrieben.

Radio Vatikan: Auf der anderen Seite beschreibt Religion doch eine wesentliche Kompetenz, die auch Demokratie und Öffentlichkeit benötigen: "Politische Öffentlichkeit funktioniert nur auf Basis einer im weiteren Sinne religiösen Grundhaltung." Religion beschreibe ursprünglich genau dieses Angesprochen-Werden: Der Mensch erfahre sich in der Religion als "Angesprochener", die Welt ist ihm in dem Moment nicht mehr "kalt, leer und still", sondern ein Ort der Hoffnung, dass "sein Schreien, Flehen, Hoffen" auf eine Antwort trifft. Die Dauerbelastung aus Beschleunigung, Stress und permanenter ökonomischer Steigerungserwartung würde jedoch diese Fähigkeit, eine Antwort wahrzunehmen, in den Hintergrund rücken lassen. "Es verhindert, dass wir in den Modus der Resonanzfähigkeit, ja, der Lebendigkeit hineinkommen. Die Welt wird scheinbar sicherer, unsere Weltreichweite vergrößert sich, aber wir werden zunehmend unglücklicher", so der Soziologe.

Atheistische Anmerkung: Also meinereiner hat sich in seinem schulischen zwangsreligiösen Zeitalter (1953-1965) nicht als Angesprochener, sondern als Verfolgter, Unterdrückter, Drangsalierter, Diktierter gefühlt, meine Hoffnung in den Religionsstunden wurden durchs das Läuten der Pauseglocke erfüllt! Endlich war diese Situation der Kälte, der Leere und des Schweigegebotes vorbei!
Hartmut Rosa entdeckte offenbar das "Opium des Volkes" wieder, sein Satz die religiöse Welt sei "ein Ort der Hoffnung, dass 'sein Schreien, Flehen, Hoffen' auf eine Antwort trifft", ist deckungsgleich mit dem Text von Karl Marx: "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist." Das Problem dabei ist es heute wie seinerzeit: das religiöse Opium hat keine Realität, sondern erzeugt nur Emotionen, die Trost spenden und Hoffnung erwecken können, das religiöse Opium ist ein Placebo. Dass es heute eine Menge Menschen gäbe, die transzendente Fragen stellen und transzendente Antworten suchen, ist ein Irrweg im Denken.
Allerdings gibt es tatsächlich eine Parallelität zwischen Religion und Demokratie: Im neoliberalen Zeitalter hat die Demokratie keine die Gesellschaft steuernde Bedeutung mehr, weil gesteuert wird alles vom Profitstreben. Was sich u.a. ganz banal zeigt in der Verschiebung der Bedeutung des Wortes "Reform". In den Zeiten wo Demokratie noch eine gestaltende Bedeutung hatte, verstand man unter "Reform" etwas, das im allgemeinen Dasein eine Verbesserung brachte, heute bedeutet Reform in der Regel: Verschlechterung für die Betroffenen. Die Masse der Menschen wird zunehmend unglücklich, weil das alleine regierende Profitsystem für die Allgemeinheit Unsicherheit und Belastungen bringt. Für einen Soziologieprofessor gilt das natürlich nicht, denn seine Welt steht ja auf dem Kopf!

Radio Vatikan: Öffentlichkeit und damit auch Demokratie "funktioniere" immer dort, wo Menschen sich nicht nur vom Anderen "berühren" lassen, sondern auch die Bereitschaft mit sich bringen, sich vom Anderen verändern zu lassen. "Gesellschaften, die sich nicht verändern wollen, die nur den Status quo erhalten wollen, sind leblose, resonanztaube Gesellschaften." Rechtspopulistische und identitäre Bewegungen seien entsprechend das Resultat eben jener Krisenerfahrung, "dass die politische Öffentlichkeit nicht mehr als Resonanzraum der vielfältigen Stimmen funktioniert", so Rosa. Die Antwort des Populismus, sich hinter der Stimme einer Leitfigur zu versammeln und die Vielfalt der Stimmen stillzustellen, sei dabei keine Lösung, sondern verschärfe die Krise noch zusätzlich.

Atheistische Anmerkung: Ja, der Satz vom Verändern ist ein typischer gutmenschlicher Klugscheißsatz: weil ein akademischer Gutmensch lebt in einer guten Position, verspürt nichts von der neoliberalen Realität und schafft seine persönliche Emporhebung durch helfende Zuwendung an auserwählte Kreise von Mühseligen und Beladenen. Für Prof. Rosa ist selbstverständlich seine Stimme eine vielfältige Stimme, die Resonanz zu finden hat! Dass die breite Masse der Bevölkerung keine Stimme mehr hat, die sich für sie erhebt, weiß so ein Professor selbstverständlich nicht, er hat was er braucht, er fühlt sich wohl und erhaben, ihn interessiert die breite Masse, die schon seit zwanzig Jahren ohne Reallohnerhöhungen, aber mit ständig steigendem Arbeitsdruck leben muss, nicht. Dieses Nichtinteresse ist kein vorsätzlichen und böswilliges, nein das ist einfach die furchtbare Ferne der Eliten zur Realität! Er kommt nicht einmal ansatzweise auf die Idee, sich mit der Lebensrealität der arbeitenden Menschen zu befassen, er will die Leute allerdings mit seinen irrealen Ideen belehren und ergreifen.
Aber die Welt ist eben so: die Religionen werden als Hilfe eher nicht mehr angerufen, weil man meistens weiß, das nutzt nichts. Und die neoliberale "Demokratie" fordert ungewollt die Menschen auf, Proteststimmen abzugeben. Proteststimmen, die dann nicht nach ihren realen Ursachen untersucht werden. Wenn 85 % der Arbeiter 2016 bei der Bundespräsidentenwahl  den FPÖ-Kandidaten Hofer gewählt haben, dann hätte das eigentlich als eine lautstarke Stimme gegen das elitengesteuerte System der neoliberalen Ausbeutung wahrgenommen werden müssen. Diese Stimme wurde und wird nicht wahrgenommen, nicht einmal von der FPÖ, niemand hat sich davon "affizieren" lassen...