Hier die Präambel des Gesetzes: Alle Beschäftigten genießen Glaubens- und Gewissensfreiheit und die
Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Keine
Beschäftigte und kein Beschäftigter darf wegen ihres oder seines
Glaubens oder ihres oder seines weltanschaulichen Bekenntnisses
diskriminiert werden. Gleichzeitig ist das Land Berlin zu
weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet. Deshalb müssen sich
Beschäftigte des Landes Berlin in den Bereichen, in denen die Bürgerin
oder der Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen
ist, in ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis
zurückhalten.
Ein Artikel im Berliner Tagesspiegel stellt
die Rechtslage in Sachen Berliner Neutralitätsgesetz nicht nur schief
und verzerrt dar, sondern fällt auch durch einen Mangel an Kenntnis der
Schulpraxis auf. Zudem beleidigt er die Mitglieder der Initiative "Pro
Berliner Neutralitätsgesetz" und unterstellt ihnen, ihr eigenes
Wertesystem über das der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
zu stellen.
Sehr geehrter Herr Lehming!
Ich trage die Initiative zum Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes
als ehemalige Grundschullehrerin in Berliner Grundschulen mit, ebenso
wie ich mit anderen KollegInnen im April 2017 bereits einen
entsprechenden Appell an den Berliner Senat adressiert hatte.
Nein, wir sind keine "Fundamentalisten" und wir stellen kein "eigenes
Wertesystem über das unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung"
und unsere Verfassung. Das ist simple Polemik, Herr Lehming!
Die religiöse Neutralität in unseren Schulen, die wir als
PädagogInnen zeigen müssen, ist in Deutschland lange erkämpft und uns
ein hohes, zu bewahrendes Gut gerade im Interesse unserer demokratischen
Grundordnung; und vor allem auch, um damit unsere SchülerInnen zu
schützen.
In Auseinandersetzungen zwischen katholischer und evangelischer
Glaubensausübung wurde früher bei uns Druck auf Kinder ausgeübt, jetzt
wiederholt sich das in der muslimischen Community. Das erleben wir
PädagogInnen in den Schulen ständig und zunehmend, insbesondere in den
Bezirken, in denen viele (Grund-)Schulen weit über 50 % SchülerInnen aus
muslimischen Familien mit Migrationshintergrund haben. Nur ein paar
Beispiele aus dem täglichen Schulleben, allein zur Symbolik und
Bedeutung religiös bestimmter Kleidung (Kopftuch):
Immer mehr Mädchen müssen, sogar bereits ab dem 1. Schuljahr, auf
Wunsch ihrer Eltern Kopftuch und lange Kleider tragen, weil nur das
"anständig" und "züchtig" ist;
Mädchen werden von Mitschülern als "Schlampe" und "Hure" beschimpft, wenn sie sich nicht so kleiden;
Mädchen werden von Mitschülern, Brüdern, Nachbarn bei den Eltern
verpetzt, wenn sie das Kopftuch ablegen (wollen) bzw. fürchten diesen
Community-Druck – die Kinder erlernen also frühzeitig Hinterhältigkeit
und Misstrauen;
Mädchen erzählen, dass sie Kopftuch tragen, weil der Vater ihnen monatlich beträchtliche Geldsummen dafür zahlt;
SchulleiterInnen werden um Umschulung gebeten, weil das Kind auf der
anderen (Grund-) Schule den Druck (konservativer) muslimischer
Mitschüler nicht mehr erträgt (Kleidung, Fasten usw.);
LehrerInnen werden von muslimischen Jungen verächtlich als
"Ungläubige" bezeichnet, was man ja allein schon an der Kleidung sehe.
Die Beispiele können erweitert werden.
Was bewirkt in diesem Klima eine Pädagogin, die ebenfalls
demonstrativ Kopftuch oder ein weiteres religiös motiviertes
Kleidungsstück trägt? Und was sollen diese Kleidungsstücke grundsätzlich
und durch die Pädagogin signalisieren?
PädagogInnen sind Orientierungs-Modelle für ihre SchülerInnen. Eine
Kopftuch oder Schador tragende Pädagogin demonstriert ihre orthodoxe
Glaubenseinstellung und damit die Einstellung gleichgesinnter Eltern und
ihrer Kritik an Musliminnen, die sich "nicht züchtig" verhüllen. Hier
erfolgt subtiler Druck, auch wenn diese Pädagoginnen nicht missionieren
wollen.
Ich kenne das "Gegenargument", dass gerade Musliminnen, die Kopftuch
tragen, "vermittelnd" gegenüber orthodox religiösen Familien auftreten
können. Soll das heißen, dass ich als nicht religiös erkennbare
Pädagogin meine Nichtachtung durch diese Familien akzeptieren soll?
Herr Lehming, Sie kennen die Schulwirklichkeit nicht, die sich gerade
in den letzten Jahren gewaltig geändert hat, gerade in stark oder
mehrheitlich muslimisch geprägten Schulen – eine zunehmende Entwicklung
in Richtung religiöser Einseitigkeit und gerade nicht in Richtung
Aufgeschlossenheit, Toleranz und gegenseitigen Respekts. Es ist doch
interessant, dass sich gerade PädagogInnen aus den Brennpunktbezirken
mit ihrer Unterschrift für den Erhalt des Neutralitätsgesetz einsetzen.
Und Sie machen sich leider auch keinerlei Gedanken um die Gefühlslage
und die Rechte der Kinder, die unter religiös motiviertem Druck
aufwachsen müssen. Über diese Kinderrechte wird im Kontext der Debatte
leider allzu oft gar nicht gesprochen!
Ulla Widmer-Rockstroh - Berlin-Wilmersdorf - Grundschullehrerin (i.R.)