Der ägyptische Ökonom Samir Amin (1931–2018)
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Juan juliao/Gemeinfrei
Samir Amin wurde am 3. September 1931 in Port
Said (Ägypten) geboren, am 12. August verstarb er in Paris. Sein Studium
der Politikwissenschaft und Ökonomie begann er 1947 in Paris, wo er der
Kommunistischen Partei beitrat, die er allerdings wegen ihrer »Moskau-Hörigkeit«
wieder verließ. 1957 promovierte er in Ökonomie mit einer bahnbrechenden
Arbeit zu den Ursachen der Unterentwicklung. Schon damals engagierte er sich
im antikolonialistischen Kampf: Es war die Zeit des (bis 1954 von Frankreich
geführten, dann von den USA fortgesetzten) Vietnamkriegs und des algerischen
Unabhängigkeitskrieges. Sein eigener Beitrag dazu beschränkte sich
in seiner Zielsetzung nicht auf die formale Übernahme der Herrschaft durch
die Kolonisierten, sondern richtete sich gegen den Kapitalismus als Grundlage
des Imperialismus, jene Gesellschaftsformation also, die verantwortlich ist
für Elend, Ausbeutung und Krieg. Dabei trennte er nie Wissenschaft von
Politik, sondern begriff sie als eine Einheit, die das von Marx formulierte
Ziel verfolgte, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist«.
Konkret engagierte sich Amin als Wirtschaftsberater
(1960 bis 1963) im unmittelbar nach der politischen Unabhängigkeit sich
sozialistisch verstehenden Mali unter dem Präsidenten Modibo Keïta.
1975 war er Mitbegründer des Dritte-Welt-Forums in Dakar (Senegal), eines
Netzwerks kritischer Intellektueller aus Afrika, Asien und Lateinamerika, dessen
Direktor er bis zu seinem Tode blieb. Er lehrte u. a. an der Universität
Paris VIII (Vincennes), lebte aber meist in Dakar und in seiner Heimat Ägypten.
Seine wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zielten auf die Abkoppelung der
sogenannten dritten Welt vom kapitalistisch dominierten Weltmarkt und Finanzsystem.
Schwerpunkt
seiner zahlreichen und vielbeachteten Publikationen blieb der französischsprachige
Raum. In Deutschland (West) wurde er erstmals bekannt durch seinen Aufsatz
»Zur Theorie von Akkumulation und Entwicklung in der gegenwärtigen
Weltgesellschaft« in dem von Dieter Senghaas herausgegebenen Band »Peripherer
Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung«
(1974). Es folgten u. a. »Die ungleiche Entwicklung. Essay über die
Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus« (1975), »Das
Reich des Chaos. Der neue Vormarsch der ›ersten Welt‹« (1992), »Die
Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung« (2002).
In der Monatsschrift Blätter für deutsche und internationale Politik
veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze, ebenso wie in der britischen
Zeitschrift Monthly Review.
Als Marxist und Humanist kämpfte
er nicht nur gegen Imperialismus und Ausbeutung, sondern auch gegen jede Form
von religiösem Obskurantismus, gegen Ethnisierung und Konfessionalisierung
von Konflikten insbesondere im Kontext des »arabischen Frühlings«,
als in seinem Heimatland Ägypten die Muslimbrüder die Macht übernahmen.
Zu Recht sah er darin ein Beispiel für die politische Vereinnahmung der
Länder, deren Bevölkerung sich gegen ihre mit dem Westen verbündeten
Diktatoren erhoben hatten, durch eben diesen Imperialismus, bekennen sich die
Islamisten bei mehr oder minder radikaler antiwestlicher Rhetorik doch konsequent
zum Marktliberalismus und verbleiben damit als willige Verbündete im Rahmen
des herrschenden Weltsystems. Deshalb können sie in Ägypten, aber
auch in Tunesien, der Türkei und im Konflikt in Syrien westlicher Unterstützung
sicher sein. Letztes und entscheidendes Mittel zur Aufrechterhaltung der imperialistischen
Weltherrschaft war und ist für ihn die NATO, »die sichtbare Faust«,
deren Aufgabe es sei, »die neue imperialistische Ordnung allen Widerständigen
aufzuzwingen« (»Revolution from North to South«, Monthly Review
3/2017).
Wissenschaftliche Arbeit war für Samir Amin keine wertfreie
Angelegenheit, sie fand weder im Elfenbeinturm statt, noch unterwarf er sich
in ihr den Interessen der Herrschenden. Das beweist u. a. seine zunehmend
kritische Haltung zu den Weltsozialforen, die er von Nichtregierungsorganisationen
vereinnahmt sah, deren Mittel aus CIA-Quellen stammten. Wissenschaft war für
ihn den Werten verpflichtet, die aus seiner marxistischen Grundhaltung resultierten:
Sie hatte zur Emanzipation der Menschheit beizutragen, Wege für eine gewaltfreie
Welt zu finden, in der Unterdrückung und Ausbeutung ein Ende gesetzt würde,
sowohl innergesellschaftlich als auch – und dies war sein zentrales Thema –
im Verhältnis zwischen Nord und Süd. Daran arbeitete er unermüdlich,
buchstäblich bis zum letzten Atemzug.
So war sein letztes großes
Projekt die Gründung einer »5. Internationale der Arbeiter und Völker«:
Der Befreiungskampf der (kolonisierten) Völker, der 1955 in Bandung begonnen
hatte, war unvollendet geblieben. Die Erfahrungen von Syriza, Podemos, La
France insoumise und die Zögerlichkeiten der deutschen Partei Die Linke
sind für ihn der Beweis, dass eine neue Allianz notwendig ist, die sich
bilden muss aus einer revolutionären internationalen Arbeiterbewegung im
Verbund mit den unterdrückten Völkern des Südens. Dafür
reiche es nicht aus, nur eine weitere »Bewegung« ins Leben zu rufen,
erfordert sei vielmehr eine global agierende Organisation – eben jene 5. Internationale.
Die Grundsteine für diese Organisation sind gelegt. Sein Lebensziel, die
Schaffung einer sozialistischen gerechten und menschlichen Weltgesellschaft,
bleibt die Aufgabe derer, die die Analysen des großen Denkers Samir Amin
als Axiom für politische Praxis begreifen.