Den Befreiungskampf der Kolonisierten vollenden

Samir Amin begriff Wissenschaft und Politik im Sinne von Marx als Einheit. Ein Nachruf von Werner Ruf am 21.8.2018 auf https://www.jungewelt.de/

Der ägyptische Ökonom Samir Amin (1931–2018)

Foto: Juan juliao/Gemeinfrei

Samir Amin wurde am 3. September 1931 in Port Said (Ägypten) geboren, am 12. August verstarb er in Paris. Sein Studium der Politikwissenschaft und Ökonomie begann er 1947 in Paris, wo er der Kommunistischen Partei beitrat, die er allerdings wegen ihrer »Moskau-Hörigkeit« wieder verließ. 1957 promovierte er in Ökonomie mit einer bahnbrechenden Arbeit zu den Ursachen der Unterentwicklung. Schon damals engagierte er sich im antikolonialistischen Kampf: Es war die Zeit des (bis 1954 von Frankreich geführten, dann von den USA fortgesetzten) Vietnamkriegs und des algerischen Unabhängigkeitskrieges. Sein eigener Beitrag dazu beschränkte sich in seiner Zielsetzung nicht auf die formale Übernahme der Herrschaft durch die Kolonisierten, sondern richtete sich gegen den Kapitalismus als Grundlage des Imperialismus, jene Gesellschaftsformation also, die verantwortlich ist für Elend, Ausbeutung und Krieg. Dabei trennte er nie Wissenschaft von Politik, sondern begriff sie als eine Einheit, die das von Marx formulierte Ziel verfolgte, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Konkret engagierte sich Amin als Wirtschaftsberater (1960 bis 1963) im unmittelbar nach der politischen Unabhängigkeit sich sozialistisch verstehenden Mali unter dem Präsidenten Modibo Keïta. 1975 war er Mitbegründer des Dritte-Welt-Forums in Dakar (Senegal), eines Netzwerks kritischer Intellektueller aus Afrika, Asien und Lateinamerika, dessen Direktor er bis zu seinem Tode blieb. Er lehrte u. a. an der Universität Paris VIII (Vincennes), lebte aber meist in Dakar und in seiner Heimat Ägypten. Seine wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zielten auf die Abkoppelung der sogenannten dritten Welt vom kapitalistisch dominierten Weltmarkt und Finanzsystem.

Schwerpunkt seiner zahlreichen und vielbeachteten Publikationen blieb der französischsprachige Raum. In Deutschland (West) wurde er erstmals bekannt durch seinen Aufsatz »Zur Theorie von Akkumulation und Entwicklung in der gegenwärtigen Weltgesellschaft« in dem von Dieter Senghaas herausgegebenen Band »Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung« (1974). Es folgten u. a. »Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus« (1975), »Das Reich des Chaos. Der neue Vormarsch der ›ersten Welt‹« (1992), »Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung« (2002). In der Monatsschrift Blätter für deutsche und internationale Politik veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze, ebenso wie in der britischen Zeitschrift Monthly Review.

Als Marxist und Humanist kämpfte er nicht nur gegen Imperialismus und Ausbeutung, sondern auch gegen jede Form von religiösem Obskurantismus, gegen Ethnisierung und Konfessionalisierung von Konflikten insbesondere im Kontext des »arabischen Frühlings«, als in seinem Heimatland Ägypten die Muslimbrüder die Macht übernahmen. Zu Recht sah er darin ein Beispiel für die politische Vereinnahmung der Länder, deren Bevölkerung sich gegen ihre mit dem Westen verbündeten Diktatoren erhoben hatten, durch eben diesen Imperialismus, bekennen sich die Islamisten bei mehr oder minder radikaler antiwestlicher Rhetorik doch konsequent zum Marktliberalismus und verbleiben damit als willige Verbündete im Rahmen des herrschenden Weltsystems. Deshalb können sie in Ägypten, aber auch in Tunesien, der Türkei und im Konflikt in Syrien westlicher Unterstützung sicher sein. Letztes und entscheidendes Mittel zur Aufrechterhaltung der imperialistischen Weltherrschaft war und ist für ihn die NATO, »die sichtbare Faust«, deren Aufgabe es sei, »die neue imperialistische Ordnung allen Widerständigen aufzuzwingen« (»Revolution from North to South«, Monthly Review 3/2017).

Wissenschaftliche Arbeit war für Samir Amin keine wertfreie Angelegenheit, sie fand weder im Elfenbeinturm statt, noch unterwarf er sich in ihr den Interessen der Herrschenden. Das beweist u. a. seine zunehmend kritische Haltung zu den Weltsozialforen, die er von Nichtregierungsorganisationen vereinnahmt sah, deren Mittel aus CIA-Quellen stammten. Wissenschaft war für ihn den Werten verpflichtet, die aus seiner marxistischen Grundhaltung resultierten: Sie hatte zur Emanzipation der Menschheit beizutragen, Wege für eine gewaltfreie Welt zu finden, in der Unterdrückung und Ausbeutung ein Ende gesetzt würde, sowohl innergesellschaftlich als auch – und dies war sein zentrales Thema – im Verhältnis zwischen Nord und Süd. Daran arbeitete er unermüdlich, buchstäblich bis zum letzten Atemzug.

So war sein letztes großes Projekt die Gründung einer »5. Internationale der Arbeiter und Völker«: Der Befreiungskampf der (kolonisierten) Völker, der 1955 in Bandung begonnen hatte, war unvollendet geblieben. Die Erfahrungen von Syriza, Podemos, La France insoumise und die Zögerlichkeiten der deutschen Partei Die Linke sind für ihn der Beweis, dass eine neue Allianz notwendig ist, die sich bilden muss aus einer revolutionären internationalen Arbeiterbewegung im Verbund mit den unterdrückten Völkern des Südens. Dafür reiche es nicht aus, nur eine weitere »Bewegung« ins Leben zu rufen, erfordert sei vielmehr eine global agierende Organisation – eben jene 5. Internationale. Die Grundsteine für diese Organisation sind gelegt. Sein Lebensziel, die Schaffung einer sozialistischen gerechten und menschlichen Weltgesellschaft, bleibt die Aufgabe derer, die die Analysen des großen Denkers Samir Amin als Axiom für politische Praxis begreifen.