Foto: pixabay.com (Pixabay License)
Ab heute ist es amtlich: Die Vorgaben der Weimarer Verfassung zur Gleichbehandlung
aller Religionen und Weltanschauungen sowie zur Ablösung der Staatsleistungen
an die Kirchen werden seit 100 Jahren, nämlich seit ihrem Inkrafttreten
am 14. August 1919, ignoriert. Wie lange der Verfassungsbruch-Ticker der Giordano-Bruno-Stiftung
noch weiter laufen wird, bis er abgeschaltet werden kann, ist ungewiss. Sicher
ist aber, dass die Kritik an der Missachtung des Gebots der weltanschaulichen
Neutralität des Staates nicht verebben wird.
Wer sich gestern Nacht den Spaß gönnte, konnte online mitverfolgen,
wie der Verfassungsbruch-Ticker (siehe den Ticker auf dieser Seite ganz unten)
auf der Website der Giordano-Bruno-Stiftung
(gbs) bzw. des Instituts für Weltanschauungsrechts (ifw) von 99 Jahren,
11 Monaten, 30 Tagen, 23 Stunden und 59 Minuten auf 100 Jahre, 0 Monate, 0 Tage,
0 Stunden und 0 Minuten umschlug. Seither zählt der Ticker munter weiter
– und er wird dies bis zu jenem vermutlich noch fernen Tage tun, an dem die
weltanschauungspolitischen Forderungen der Weimarer Verfassung, die 1949 in
das deutsche Grundgesetz integriert wurden, endlich erfüllt werden.
Die Liste der Verfassungsverstöße ist länger, als viele vermuten.
Denn es geht hier nicht nur um die jährlichen Staatsleistungen an die christlichen
Großkirchen in Höhe von über 500 Millionen Euro, die eigentlich
schon 1919 abgelöst werden sollten, sondern beispielsweise auch um den
Eintrag der Konfessionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte, der gegen
Artikel 136 der Weimarer Verfassung verstößt, wonach niemand gezwungen
ist, seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren. Auch das sogenannte
"Selbstbestimmungsrecht" der Kirchen, das diese heranziehen, um die
weltanschauliche Diskriminierung von Andersdenkenden bzw. Andersgläubigen
auf dem Arbeitsmarkt zu begründen, ist mit dem Auftrag der Verfassung schwerlich
in Einklang zu bringen. Denn die Weimarer Verfassung (und somit auch das Grundgesetz)
kennt kein spezielles kirchliches Selbstbestimmungsrecht, sondern bloß
ein Selbstverwaltungs- und Selbstordnungsrecht "innerhalb der Schranken
des für alle geltenden Gesetzes". Die Religionen stehen also keineswegs
über dem Gesetz – eine Forderung, die auch gegenüber nichtchristlichen
Glaubensgemeinschaften in aller gebotenen Konsequenz durchzusetzen wäre.
Verstöße gegen das Neutralitätsgebot findet man allerdings
nicht nur auf dem Gebiet des sogenannten "Staatskirchenrechts". Erstaunlich
viele Gesetze gründen auf religiösen Vorstellungen, obgleich dem Staat
eine solche weltanschauliche Parteilichkeit strikt untersagt ist. Ein markantes
Beispiel hierfür sind die deutschen Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch,
die auf das katholische Dogma der Simultanbeseelung zurückgreifen und auf
dieser Basis die Selbstbestimmungsrechte ungewollt schwangerer Frauen aushebeln.
Tatsächlich werden die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger
noch immer in illegitimer Weise durch christliche Glaubensvorgaben eingeschränkt
- und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich
vom Embryonenschutz bis zum Friedhofszwang (vgl. hierzu den Grundlagenaufsatz
"Der blinde Fleck des deutschen Rechtssystems" von gbs-Sprecher Michael
Schmidt-Salomon).
Das von der Giordano-Bruno-Stiftung gegründete ifw
- Institut für Weltanschauungsrecht - versucht, u.a. durch die Begleitung entsprechender Musterverfahren, das
Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates zu stärken. Um
die wissenschaftliche Debatte auf diesem Gebiet zu forcieren, gibt das Institut
inzwischen auch eine eigene Reihe "Schriften zum Weltanschauungsrecht"
im Nomos-Verlag heraus. Band 1 der Schriftenreihe, die von Jacqueline Neumann,
Gerhard Czermak, Reinhard Merkel und Holm Putzke herausgegeben wird, ist unlängst
erschienen. Das Buch bietet wegweisende Beiträge zum Weltanschauungsrecht
und beschäftigt sich u.a. damit, wie der liberale Rechtsstaat in angemessener
(rationaler, evidenzbasierter und weltanschaulich neutraler) Weise mit Fragen
der Sterbehilfe, Kirchensteuer, Genitalbeschneidung oder des Schwangerschaftsabbruchs,
Kindesmissbrauchs und Bekenntnisunterrichts umgehen sollte.
Einen kurzen, leicht verständlichen Überblick über die Thematik
vermittelt die Broschüre "Abschied von der Kirchenrepublik",
die von der Giordano-Bruno-Stiftung zum Start der Säkularen Buskampagne
"Schlussmachen jetzt!" herausgegeben wurde.