Warum es uns immer schlechter gehen wird


Nr. 312 vom 14.9.2019

In aller Welt steigen die Einkommensunterschiede, den meisten Menschen geht es schlechter und schlechter. Wie kam es so weit?

In einem bemerkenswert Kapitalismus-kritischen Beitrag in der "New York Times" vom 24. August 2019 zeigen die Autoren minutiös den Verfall unserer Auffassungen vom Sozialstaat und den fortwährenden Untergang der Nicht-Privilegierten - zu denen bald 90% der Bevölkerung gehören werden.

Die meiste Zeit war die Welt in Ordnung. Wirtschafts"wissenschaftler" waren in den Regierungen der USA kaum vertreten und als reine Rechengehilfen verachtet. Franklin D. Roosevelt entließ sogar den bedeutendsten Wirtschaftsdenker des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes. Doch dann, ab den 1970iger Jahren, änderten sich die Einstellungen der Politiker. Nun konnten Wirtschaftsleute (den Ausdruck "Wissenschaftler" halte ich in diesem Zusammenhang für unangemessen) zunehmend Politiker beeinflussen. In den 40 Jahren ihres Wirkens krempelten sie Gesinnung, Ziele und Vorstellungen der Politiker bezüglich Wirtschaft und Wohlstand völlig um. Hier einige ihrer Vorstellungen, die von Politikern aus aller Welt allmählich übernommen wurden:
- Ein guter Staat ist ein toter Staat. Also: Je weniger der Staat tut, umso besser für die Bürger. Jedenfalls für die mit Macht und Geld.
- Die Steuern der Reichen müssen gesenkt werden.
- Der Staat hat sich aus allem Wichtigem zurückzuziehen und die öffentliche Versorgung privaten Unternehmungen zu überlassen: Busse und Eisenbahn, Versorgung mit Elektrizität und Wasser, Krankenversicherung, Wohnungsbau, Radio und Fernsehen.
- Gewerkschaften sind böse und gehören aufgelöst. Große Firmen und Monopole sind gut und gehören gefördert.
 - Ein "Finanzausgleich" dergestalt, dass die Reichen auch den Armen was abgeben, ist tunlichst zu unterlassen. Ein Mindestlohn ist abzulehnen. Je tiefer die Einkommensunterschiede, umso besser für alle. Mit "alle" sind, wie üblich, die Reichen und Mächtigen gemeint.

Insbesondere die "Chicago Boys" waren federführend in der Propagierung dieser Ideen. Mit "Chicago" verbinden wir in Europa die glorreiche Zeit der großen Gangster. Die Assoziation stimmt immer noch, sogar, was die Vernichtung von Menschenleben betrifft. Denn diese Gruppe unterstützte den chilenischen Menschenschlächter und Massenmörder Augusto Pinochet in seinen Wirtschaftsreformen, wobei dessen Säuberungs- und Eliminationsmethoden ausdrücklich gut geheißen wurden. Im Norden setzten sie ihre Ideen in Demokratien durch, mit nicht minder schlimmen Folgen: Denn schon seit langem ist die negative Korrelation zwischen Einkommensunterschieden und Lebenserwartung bekannt. Wo es die geringsten Einkommensunterschiede gibt - in Japan - da leben die Menschen am längsten. In den USA sank, trotz des medizinischen Fortschritts, die Lebenserwartung der Einwohner, aber nur diejenige der Armen.

Weitere Auswirkungen der ökonomischen Zersplitterung der Gesellschaft:
Der Zusammenhalt schwindet, Solidarität wird ein Schimpfwort, der Staat zerfällt in einzelne Gruppen, die sich nicht mehr als Ganzes empfinden ("Amerikaner", "Deutsche", "Demokraten"), sondern nur noch ihre Partikularinteressen vertreten. Das Parteiengefüge löst sich auf, immer mehr Parteien entstehen und wollen nichts miteinander zu tun haben. Erfolg haben monothematische Parteien wie die Grünen (der große Feind der Menschheit: CO2; das Klima muss vor ihm geschützt werden) oder die AfD (der große Feind der Menschheit: Ausländer; Deutschland muss vor ihnen geschützt werden).

Der Anführer dieser Gruppe moderner Ideologen, Milton Friedmann, wurde für seine Ideen zur Zerstörung von Gesellschaft und Staat entsprechend belohnt: 1976 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Einen weiteren Nobelpreis errang Robert E. Lucas, als er vor irgendwelchen Versuchen warnte, die Ungleichheit der Gesellschaft beseitigen zu wollen. Denn Ungleichheit entsteht wie eine Regenwand oder der Untergang von Arten: Sie ist "natürlich" wie die Globalisierung oder der technische Fortschritt, da kann man also nichts dagegen machen.

Die Ungleichverteilung hat, neben den erwähnten Folgen, noch weitere unerfreuliche Konsequenzen für die Gesellschaft. Immer weniger Menschen schaffen den Aufstieg, tragen also zum Bruttosozialprodukt bei. Sie konsumieren weniger, die Wirtschaft stagniert. Die Reichen und Superreichen haben wenig Interesse an Investitionen. Sie gleichen mehr Dagobert Duck als Daniel Düsentrieb. Die Folge: Das Geld liegt uneffektiv herum (auf den Bahamas oder den Cayman-Inseln), der Gesamtwohlstand schwindet.

Nun könnte man meinen, die - eher sozial orientierten - Europäer hätten dem Widerstand geleistet. Mitnichten. Gerade die Parteien, die das Wort "sozial" in ihrer Bezeichnung tragen, haben sich die destruktiven Gedanken der Chicago-Gangster unter dem Euphemismus "Neoliberalismus" zu eigen gemacht. Z.B. Tony Blair, Vorsitzender der britischen Arbeiterpartei und Premierminister, oder Gerhard Schröder, Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bundeskanzler. Unter deren Agenda leiden die entsprechenden Länder heute noch.