Offener Brief von Christian Kern

Diesen Brief habe ich gestern Abend verfasst (28.11.2019). Er richtet sich an die aktuellen Verantwortungsträger in der SPÖ. Da er wie fast zu erwarten war, sehr rasch den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat, stelle ich das Schreiben auch euch zur Verfügung. Ich hoffe, damit für etwas Klarheit zu sorgen.

"Sehr geehrte Mitglieder des Bundesparteipräsidiums und des Präsidiums des Klubs Sozialdemokratischer Abgeordneter!
Liebe Freundinnen, liebe Freunde!

Die Ereignisse der vergangenen Tage waren sehr bedrückend. Ich hätte gerne darauf verzichtet, mich dazu zu äußern. Die verbreiteten Unterstellungen lassen mir aber keine andere Wahl.

Wie ihr noch alle bestens wisst, habe ich in der Folge der betrüblichen Ereignisse am 1. Mai 2016 und nach einer sehr schweren Niederlage bei der Bundespräsidentenwahl die Parteiführung übernommen. Die SPÖ lag damals in den Umfragen bei 21% (nachzulesen auf "neuwal. com"). Durch die SPÖ ist ein Riss gegangen. Darüber hinaus war die finanzielle Situation mehr als prekär.

Ich hatte allerdings nie das Gefühl, einen "Rucksack voller Steine" übernommen zu haben, sondern habe es als großes Privileg gesehen, die SPÖ anführen zu dürfen. Anderes ist mir auch nicht in den Sinn gekommen, weil ich bei allen Herausforderungen auf positive Entwicklungen aus der Zeit meiner Vor- und Vorvorgänger aufbauen konnte.

Der Schuldenstand am Tag meiner Rücktrittserklärung hat nach einem umfassenden Sanierungsprogramm, das übrigens auch regelmäßig im Parteivorstand berichtet und abgestimmt wurde, 10,57 Millionen Euro betragen und nicht 14,9 wie neben anderen falschen Zahlen behauptet. Die entsprechenden Belege lassen sich in der Löwelstraße finden. Alles andere sind Rechtfertigungsversuche, die noch dazu im Gegensatz zur vollen Einhaltung des Sanierungskurses stehen, die die Parteiführung selbst im Parteivorstand vom 19.12.2018 berichtet hat.

Das Kostenabbauprogramm wurde von Georg Niedermühlbichler, Christoph Matznetter, Max Lercher und ihren Teams sorgsam überwacht und durchgeführt und auch regelmäßig in Präsidium und Vorstand berichtet.

Ein Teil des Programmes war der Verkauf des Haus Altmannsdorf. Der größere Teil des Verkaufserlöses ist korrekterweise an das Renner-Institut und nicht an die Partei gegangen. Das Renner-Institut hat mit dem Erlös eine neue günstigere Immobile am Wiener Hauptbahnhof finanziert. Ich darf in Erinnerung rufen, dass der abgewohnte Zustand des Hotels Millioneninvestitionen erfordert hätte, deren Rendite nicht einmal die dafür notwendigen Kreditkosten gedeckt hätte. Darüber hinaus haben die laufenden Erhaltungskosten für Park und Anlage wesentliche Teile des Budgets des Renner-Institutes aufgezehrt, die dann für die politische Arbeit gefehlt haben. Wir haben also gemeinsam nach ausführlichen Gutachten und Diskussionen im Parteivorstand wirtschaftlich völlig korrekt entschieden.

Neben den wirtschaftlichen gibt es aber auch ein paar politische Fakten, auf die ich hinweisen möchte. Wir haben bei der Nationalratswahl 2017 rund 100.000 Stimmen und einen kleinen Prozentanteil dazugewonnen. Wir waren de facto in allen großen Städten die Nummer eins - darunter auch Graz und Innsbruck. Bei den folgenden Landtagswahlen haben wir in drei von vier Fällen zulegen können. Wir haben tausende neue Mitglieder für die SPÖ gewinnen können. Gemeinsam haben wir ein Parteiprogramm ausgearbeitet, das dem Klimawandel einen sehr prominenten Platz eingeräumt hat. Wir haben eine Organisationsreform beschlossen, die eine weitgehende Demokratisierung der SPÖ gebracht hätte. Die Mitglieder hätten mehr Mitsprache bekommen. Die von mir vorgeschlagene und ebenfalls im Vorstand beschlossene Begrenzung der Mandatszeiten hätte gezeigt, dass es uns um ein politisches Anliegen geht und nicht um einen persönlichen Versorgungsanspruch.

Viele Weichen waren für das neue Team an der Spitze gestellt. Inklusive des Personals, dass diesen Weg glaubwürdig vertreten hätte können. Man hat sich dann aber entschlossen, einen anderen Kurs einzuschlagen. Das ist selbstverständlich das gute Recht der Führung. Aber dann sollte man auch zu den Konsequenzen dieser Entscheidungen stehen.

Umfragen kurz vor meinem Abgang haben die SPÖ bei 29 Prozent gesehen. Nach meinem Abgang hat sich die SPÖ die längste Zeit bei 26 Prozent eingependelt. (alles nachzulesen auf "neuwal. com") Mit dem Management der Ibiza-Ereignisse und dem Wahlkampf 2019 kam dann der Absturz auf das bekannte Niveau. Bis heute haben sich die Zustimmungswerte nicht erholt.

Mein Abschied von der Parteispitze hat viele enttäuscht. Vielleicht verstehen manche im Lichte der jüngsten Ereignisse meine Entscheidung nunmehr besser. Ich habe im Wahlkampf 2017 erlebt, welchen Schaden Illoyalität verursachen kann. Und in der Oppositionszeit konnte man den Eindruck gewinnen, dass unser größter Gegner in den eigenen Reihen sitzt. Ich habe mich dennoch öffentlich mit Äußerungen zurückgehalten, um das Unglück nicht noch zu vergrößern. Aber ich habe auch keinen Sinn darin gesehen, mich von den "eigenen" Leuten scheibchenweise abmontieren zu lassen - und die SPÖ gleich mit dazu.

Wir werden uns aus dieser Situation nur dann befreien können, wenn wir die SPÖ ernsthaft und konsequent demokratisieren. Unsere Mitglieder und Unterstützer haben ein gutes Gefühl dafür, was es braucht. Unsere Zukunft sind die vielen Idealisten, die bis zum heutigen Tag für unsere Ideen brennen.

Ich wünsche euch von ganzem Herzen eine glückliche Hand und viel Erfolg bei den Weichenstellungen für die Zukunft."

Mit freundschaftlichen Grüßen
Christian Kern