Vernebelte Fakten, Feuilletons und Fakultäten

Verfasst von Christian Meißner am 24. JUL 2020 auf https://hpd.de/

Laut einer aktuellen Studie der Bosch-Stiftung vertrauen 73 Prozent der Deutschen "in Zeiten von Corona" der Wissenschaft und Forschung. "Die religiösen Bedürfnisse finden in einem weitgehend selbstsäkularisierten Christentum keinen Halt und suchen in der Wissenschaft unterzukommen", diagnostizierte hingegen Christian Geyer vor ein paar Wochen bei faz.net und verweist dabei auf die "zwischen Häresie und Orthodoxie oszillierenden Meinungen und Vorschriften" während der Corona-Krise. Bis auf das Ausmaß der Oszillation sind jedoch diese Vorgänge für den Wissenschaftsbetrieb wohl eher business as usual.

Unter dem Brennglas der derzeitigen Situation rund um Covid-19 findet nun mal eine erhöhte Forschungsaktivität unter den Augen der interessierten Öffentlichkeit statt. Deswegen müssen sich alle sonst über einen längeren Zeitraum erstreckenden Vorgänge des Festhaltens an und der Verneinung von Aussagen und Methoden zwangsläufig verdichten. Folglich fragt man sich: Um wessen "religiöse Bedürfnisse" geht es hier eigentlich?

Offenbar glaubt Herr Geyer nicht so sehr wie der überwiegende Rest der Deutschen, dass Wissenschaft die Fähigkeit hat, sich von religiös inspiriertem dogmatischem Denken zu befreien. Möglicherweise kennt er zudem die besagte Studie auch nicht, und weiß daher nicht, dass bei den Deutschen Rationalität – gerade unter diesen speziellen Krisenbedingungen – höher im Kurs steht, als es mancher Religiöser wahrhaben möchte.


Herr Geyer hebt den vermeintlich entscheidenden Beitrag des Christentums zur "Profanisierung der Wirklichkeit" hervor, die vormals "von sich ins Diesseits transzendierenden Göttern und Geistern bewohnt" war. Nun ist aber nicht weniger Magie im Spiel, nur weil jetzt nur noch ein einziger Gott angeblich in die Naturgesetze eingreifen soll. Herr Geyer bietet jedoch trotzdem weiterhin den "Eingottglauben" als Lösung an, denn: "Religiöse Bedürfnisse, die vom Monotheismus absorbiert werden, brauchen [dann] nicht in der Wissenschaft Unterschlupf zu suchen." Allein es funktioniert nicht: In den weitgehend "eingottgläubigen" Vereinigten Staaten von Amerika haben 73 Prozent der Einwohner Zweifel an der Evolutionstheorie oder lehnen sie gar ab. Selbst wenn man diese 73 Prozent absichtlich dumm halten möchte: Sie haben immer noch die Möglichkeit wählen zu gehen, womit der Druck auf die Universitäten von Seiten der Kreationisten weiter zunehmen könnte. Freiheit der Wissenschaft sowie eine aufgeklärte und freie Gesellschaft bedingen sich gegenseitig.

Hierzulande wiederum fragt kaum jemand, welchen Beitrag zum menschlichen Fortschritt eigentlich theologische Fakultäten leisten. Aufgrund der Erkenntnisse der Naturwissenschaften können wir zum Mond fliegen, über Satelliten kommunizieren und Krankheiten heilen. Und was hat Theologie erreicht? Dass die Gläubigen nach fast 2000 Jahren immer noch auf den Kirchbänken um Erlösung von ihren Leiden beten. Herr Geyer schreibt von der Wissenschaft in der Corona-Krise als "Wissenschaftsreligion". Diese Einordnung von Wissenschaft als Religion ist sehr problematisch, denn es ist nicht mehr erkennbar, welche Denkmuster die Gesellschaft stagnieren und welche sie voranschreiten lassen.

Noch problematischer ist es, wenn Wissenschaftler über staatliche Institutionen dergleichen verbreiten. So fragte vor einiger Zeit die promovierte Kulturwissenschaftlerin Silke Gülker in einem Beitrag auf der Website der Bundeszentrale für Politische Bildung, ob Wissenschaft und Religion nicht ein und dasselbe wären und behauptete: "Auch die Akzeptanz eines wissenschaftlichen Ergebnisses hat etwas mit Glauben zu tun." Das stimmt zwar, aber für wissenschaftliches Glauben ("für wahr halten") gibt es zwei Gütekriterien: Ist eine Aussage a) auf Fakten basiert und b) in sich logisch und widerspruchsfrei? Ferner ist hier das "Glauben" nur vorläufig und alles darf hinterfragt werden. Das alles ist der Anspruch der Wissenschaft. Religion hat diesen Anspruch nicht: Wie antwortete der "Kirchenvater" Augustinus auf die Frage, was Gott tat, bevor er die Welt erschuf? "Er erschuf die Hölle - für alle, die solche törichten Fragen stellen."

Noch ein Beispiel: Die in Kalifornien lebende promovierte Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling behauptete, man könne den Islam nicht kritisieren. Kritik könne man an einem Sachverhalt üben oder "bestimmte Aspekte einer Religion" kritisieren, bemerkt sie, um dann weiter zu fragen: "Was soll denn das Äquivalent sein? Judentumskritik? Buddhismuskritik?" "Absolut richtig!", möchte man ihr entgegnen. Und dann fundamentalkritisch auf den Kern der jeweiligen Religion abzielen: ihre Irrationalität.

Der Glaube, dass ein imaginiertes Kollektiv aufrecht gehender Primaten auf einem winzigen Planeten am Rande der Milchstraße unter allen anderen imaginierten Kollektiven aufrecht gehender Primaten von einem imaginierten allmächtigen Schöpfer des Universums für besondere Aufgaben auserwählt worden sei, entbehrt jeglicher logisch-empirischen Grundlage. Dasselbe gilt für den Glauben, bei einem wie auch immer verfehlten – und von wem auch immer so beurteilten – Leben nicht als aufrecht gehender Primat, sondern als Kakerlake wiedergeboren zu werden.

Den Islam könnte man natürlich auf dieselbe Art kritisieren. Eine plurale Gesellschaft muss so etwas aushalten können. Frau Wehling möchte aber statt von "Islamkritik" lieber von "Hetze gegen eine religiöse Minderheit" sprechen. Dort jedoch, wo Religionskritik als "Hetze" gilt, müssen folglich klassische Fundamentalkritiker der Religion wie Epikur, Baruch de Spinoza und Ludwig Feuerbach ebenfalls als "Hetzer" gelten.

Und die Religiösen können sich kritischen Nachfragen gänzlich verschließen – so wie Aiman Mazyek. Der Islamverbandschef und Botschafter der Kampagne "WirsindRechtsstaat" schweigt bis heute zu den sieben vom Institut für Weltanschauungsrecht gestellten Verfassungsfragen – etwa zu der Frage, ob "muslimische Frauen im Rahmen der geltenden deutschen Gesetze frei darin sein sollten, denjenigen oder diejenige ihrer Wahl zu heiraten."

Derartige semantische Sprachspielchen wie diejenigen der Akademikerin aus Kalifornien haben also ganz reale Folgen für auf Grund ihrer Liebe zur Freiheit bedrohte Ex-Muslime. In einem demokratisch-aufgeklärten 21. Jahrhundert sollte Wissenschaft deswegen keine intellektuelle Beihilfe zu einer Politik der "religiösen Identität" liefern, welche zu Lasten der Menschenrechte geht.

Intersubjektiv überprüfbare Wissenschaft ist eine Grundbedingung für Fortschritt. Subjektiv empfundene Religion ist Privatvergnügen. Wissenschaftler sollten darum den religiösen Glauben als empirisches Faktum anerkennen, ihn aber nicht durch ihre Arbeit fördern und sich methodisch eindeutig davon distanzieren. Um es mit dem Virologen Christian Drosten zu sagen: Sie haben Besseres zu tun.