Alle müssen sich einschränken – außer der Kirche!

Fragen an den österreichischen Bundeskanzler wegen Maßnahmen, die nicht für die Kirche gelten

hpd.ge/2.11.2020 Der Bundeskanzler Kurz ist zu Gast im „Morgenjournal“ von OE1, dem Nachrichtenkanal des ORF –Radios. Es geht um Corona, wie immer. Es werden die am Samstag bekanntgegebenen Maßnahmen der Bundesregierung für den 2. Lockdown im November hinterfragt und die Reaktion der Bevölkerung diskutiert. Moderator Rainer Hazivar bringt den Vorwurf der Bevölkerung ins Spiel, dass sich alle Bereiche der Gesellschaft Einschränkungen gefallen lassen müssen, selbst auf die Gefahr, dass viele an den Rand des wirtschaftlichen und psychischen Ruins geraten, insbesondere, die Menschen die im Freizeitbereich tätig sind, wie Gastronomie, Kunst, Kino, Veranstaltungen etc., nur die Kirche genießt eine Sonderstellung und muss nicht weitere Einschränkungen in Kauf nehmen, obwohl sie theoretisch ebenfalls zum „Freizeitbereich“ gehört.

Die Antwort des Bundeskanzlers war so gut wie keine Antwort: Jeder sieht sich ungerecht behandelt und würde gerne seinen Bereich ausnehmen. Es wäre also eine Abwägungsfrage und „Religion sei ein ganz besonders heikler Bereich“.

Jetzt ergeben sich folgende offenen Fragen an den Bundeskanzler, auch im Zusammenhang mit dem offenen Brief, den wir gestern – gemeinsam mit den Atheisten Österreichs (siehe unten) – veröffentlicht haben:
Herr Bundeskanzler, Ihre Antwort auf Hazivars Frage bez. der Corona-Ausnahmen für Religion im Morgenjournal war verwaschen, das heißt, dass das Problem offenbar nicht wirklich durchdacht worden ist. Alle Fragen in Zusammenhang mit Religion und Politik haben enorme Konsequenzen und sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir fordern daher eine klare Aussage seitens der Bundesregierung und ein Bekenntnis zur Trennung von Staat und Religion. Wir wollen nicht in die Fußstapfen von Erdogan, Orban und Kaczyński treten (EOK-Modus) und daher bereits allen Anfängen wehren.

Inwiefern ist die Religion ein heikler Bereich? Was meinen Sie damit?
Heißt das, dass sich die österreichische Regierung mit Drohungen herumschlagen muss und dass im Hinblick auf die Vorkommnisse in Frankreich ein vorauseilender Gehorsam gegenüber den Glaubensgemeinschaften breit macht?

Auf welchen Umstand, außer auf Tradition gründet sich diese Vorgehensweise?
Das allgemeine Verständnis ist, dass Österreich ein säkulares Land ist. Die Zahlen belegen, dass sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht als „religiösen Menschen“ sieht (Religiosity Study Gallup International). Es gibt also für die Aussage „Religion ist ein heikles Gebiet“ keine faktische oder rechtliche Grundlage. Wir hoffen nicht, dass ihre Aussage eine Kniebeuge vor den Glaubensgemeinschaften ist.

Die Zahlen aus dem Frühjahr zeigen, dass die religiösen Veranstaltungen sehr wohl eine substanzielle Gefahr darstellen im Hinblick auf die Ausbreitung des Virus. Da hier praktisch keine wirtschaftlichen Auswirkungen zu erwarten wären, ist es besonders unverständlich, dass wieder Religionen eine Sonderbehandlung erfahren.

Das Präsidium des Humanistischen Verbandes am 2.11.2020

Zur Information der Brief an die Regierung vom 1.11.2020

Werte Bundesregierung, Bundeskanzler Kurz, Gesundheitsminister Anschober,
wie wohl die meisten Österreicherinnen und Österreicher haben auch wir in diesen Stunden aufmerksam die Medienberichte und Pressekonferenzen verfolgt, in denen weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie angekündigt und präsentiert wurden.

Wir unterstützen diese Maßnahmen und appellieren an die österreichische Bevölkerung, diese einzuhalten und ernst zu nehmen, um diesen Beginn einer zweiten Welle möglichst effektiv zu begrenzen.

Effektive Eindämmung ist nun aber bereits jenes Stichwort, das uns zu diesem offenen Brief veranlasst. Sieht man sich den bisherigen Verlauf der Ausbreitung in Österreich an, um aus der Vergangenheit zu lernen, so fällt auf, dass Infektionen sehr häufig an Orten auftreten, an denen viele Menschen auf engem Raum sind – was durchaus logisch erscheint. Nicht umsonst wurden nun abermals Theater, Museen, Gastronomie und ein Teil der Schulen geschlossen. Weiters werden konsequent Veranstaltungen abgesagt, Familientreffen und private Zusammenkünfte verboten.

Man erkläre an dieser Stelle also bitte, mit welchen Argumenten es zu vertreten ist, dass es nun ausgerechnet die Gotteshäuser sein sollen, die ihren Betrieb zwar mit Auflagen, aber im Übrigen ungehindert fortführen dürfen. Sind Kirchen denn kein Ort, an dem viele Menschen auf begrenztem Raum zusammenkommen? Was unterscheidet einen Gottesdienst von all den Veranstaltungen, die abgesagt werden müssen? Gerade religiöse Veranstaltungen gehören immer wieder zu den Superspreadern. Während Künstler, Schauspieler, Regisseure, Bühnen-, Ton– und Lichttechniker und viele mehr, die mit Veranstaltungen und Kultur ihr tägliches Brot verdienen, nun wieder um ihre Existenz bangen müssen und angewiesen auf die als “rasch und unbürokratisch” ausgewiesene staatliche Notunterstützung sind, brauchen Geistliche in Zeiten ohne wöchentlichen Gottesdienst wohl keinesfalls um ihr Überleben zu bangen. Wo in Schulen, Universitäten und im allgemeinen Berufsleben auf Digitalisierung und Liveübertragungen über das Internet gesetzt wird, soll ausgerechnet im Bereich der Religionsausübung persönliche Anwesenheit erlaubt sein, um ein Bedürfnis zu befriedigen, das nicht nur kein Grundbedürfnis darstellt, sondern dessen Befriedigung nicht ortsgebunden ist, ist der “Allmächtige” doch schließlich immer und überall.  

Bitte überlegen Sie sich, wie Sie zum Schutz der Gottesdienstbesucher, von denen viele demografisch in die Risikogruppe fallen, beitragen können, indem Sie Auflagen für Gottesdienste und religiöse Aktivitäten erlassen, die mit anderen Bereichen vergleichbar sind! Die Bevorzugung spezifischer Gruppen ist aktuell weder pandemiestrategisch noch politisch ratsam. Denn je mehr Cluster und Infektionen es gibt, umso länger muss die restliche Bevölkerung mit schweren Einschnitten leben, gegen die sich ohnehin schon Widerstand regt, und umso mehr werden Krankenhäuser belastet.

In Zeiten wie diesen sehen wir die Bundesregierung – allen voran jedoch den Gesundheitsminister – in der Verantwortung, rational und faktenbezogen zu agieren, was bedeutet, sein Tun und Handeln zum Wohl der Allgemeinheit von wissenschaftlichen Erkenntnissen leiten zu lassen, statt in falsch verstandener Rücksicht auf die religiösen Bedürfnisse Einzelner weitere unnötige Cluster zuzulassen, deren Opfer sich nicht auf die jeweilige Gruppe religiöser Anhänger beschränken werden.

Verein Atheisten Österreich - Humanistischer Verband Österreich