Einleitung zum Interview: "Als Theologe lässt man viele Dinge
einfach stecken", sagt Gerhard Deißenböck. Im Interview berichtet er
davon, was er im Katastrophengebiet erlebt hat und wie das seine Gottesbeziehung
beeinflusst - und massiv in Frage stellt.
Er ist Geschäftsführer des Klerusverbands Bayern, ehrenamtlich bei Feuerwehr
und Bayerischem Roten Kreuz und der Freiwilligen Feuerwehr aktiv und er hat
den Doktortitel in Theologie: Gerhard Deißenböck (43) war selbst im Katastrophengebiet
in Rheinland-Pfalz. Im Interview spricht er über den Einsatz, die Bedeutung
der Theologie und warum er Pfarrern ein Praktikum beim Rettungsdienst empfiehlt.
Frage: Herr Dr. Deißenböck, was macht ein promovierter Theologe
im Hochwassergebiet?
Deißenböck: Seit Jahren bin ich in der Freiwilligen Feuerwehr als auch
beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK) ehrenamtlich aktiv, speziell auch für die
Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) im Kreisverband in Mühldorf am Inn.
Ich betreue dort primär Einsatzkräfte nach potenziell belastenden Einsätzen,
aber auch Betroffene. Und das war auch unsere Aufgabe beim Einsatz in Rheinland-Pfalz.
Am ersten Tag ging ich mit einer Kollegin direkt ins Schadensgebiet im Landkreis
Ahrweiler, am zweiten und dritten Tag war ich als "Psychosoziale Fachkraft"
für die Betreuung aller Einsatzkräfte im Kontingent des BRK am Nürburgring
verantwortlich.
Atheistische Anmerkungen: Keine
Frage: Was haben Sie im Katastrophengebiet erlebt?
Deißenböck: Ich habe schon viel Erfahrung mit solchen Einsätzen, ich
war bei der Oder- beziehungsweise Elbeflut 2002 in Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Aber was ich am Nürburgring und im Landkreis Ahrweiler gesehen habe, konnte
ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Allein die Dimension
der Katastrophenhilfe: Es gab einen eigenen Einsatzabschnitt für die psychosoziale
Notfallbetreuung mit 170 Mann. Teilweise mussten wir sogar mit dem Helikopter
eingeflogen werden. Mein erster Auftrag war die Ortschaft Schuld, die man aus
den Nachrichten kennt. Aber was wir dort gesehen haben... Für mich ist es wie
im Krieg gewesen, nur dass man nicht aufeinander geschossen hat. Ganze Straßenzüge
einfach zerstört.
Atheistische Anmerkungen: Keine
Frage: Was für Menschen sind Ihnen da begegnet?
Deißenböck: Wir haben einen Feuerwehr-Einsatzleiter kennengelernt,
der sein komplettes Haus verloren hat. Und trotzdem hat er sieben Tage danach
weiter den Einsatz gemanagt. Normalerweise hätte man so jemanden rausnehmen
müssen. Aber da hätte man ihn in Handschellen von der Polizei abführen lassen
müssen. Oder ich habe auf einem Campingplatz ein 63-jähriges Ehepaar getroffen.
Die komplette Existenz ist vernichtet, die ganze Altersversorgung weg. Sie selbst
haben noch andere gerettet und sind dabei in Lebensgefahr gewesen.
Atheistische Anmerkungen: Wieso soll die Altersversorgung weg sein? Haben
die keine Pensionen, sondern nur Erspartes gehabt, das weggeschwemmt wurde?
Frage: Was sagt der Theologe zu solchen Menschen?
Deißenböck: Was soll man groß erzählen - es geht vor allem darum,
da zu sein, zuzuhören. Und wir haben uns um die Basics gekümmert, wie Wasser
oder Masken zu bringen. Als Theologe lässt man viele Dinge einfach stecken.
Gott hat da augenscheinlich keine große Rolle gespielt.
Atheistische Anmerkungen: Rollen spielt Gott maximal in verreligiösten
Köpfen - und in Köpfen von Atheisten, die ihren Atheismus täglich verkünden...
Frage: Was rät die Einsatzkraft Gerhard Deißenböck den Seelsorgerinnen
und Seelsorgern, den Klerikern im Klerusverband, denen er als Geschäftsführer
begegnet?
Deißenböck: Ich würde zunächst über meine Erfahrungen im Krisengebiet
sprechen. Und dann rate ich allen, sich mit den Strukturen von Katastrophenschutz
und Rettungsdienst auseinanderzusetzen, vielleicht mal nach der Pandemie ein
Praktikum auf einem Rettungswagen zu machen, einfach mal die eine oder andere
Schicht mitzufahren oder die örtliche Feuerwehr besuchen. Dann wird Theologie
auf einmal ganz konkret, wenn es etwa ums Sterben oder auch nur um Verletzung
geht. Und ich würde raten, auf jeden Fall eine Notfallseelsorgeausbildung zu
besuchen, das Thema Einsatznachsorge wäre ebenso interessant. Auch wenn man
im Anschluss dort nicht eingesetzt wird oder tätig werden möchte. Wichtig
ist auch: Über den Tellerrand schauen, was andere Disziplinen, wie Psychologie,
Soziologie und auch die Pädagogik zu bieten haben. Der Theologe ist nicht allein
auf der Welt.
Atheistische Anmerkungen: Da liegt er richtig, die Theologen sind nicht
allein auf der Welt, das ist sogar eine extrem kleine Minderheit, die meisten
Leute sind heute säkular und hoffen nicht auf oder fürchten sich vor Göttern,
weil die heutige reale Welt kümmert sich um Probleme - Götter können das
mangels Existenz ja gar nicht!
Frage: Konnten Sie angesichts der Zerstörung noch den Willen Gottes
erkennen?
Deißenböck: Wir werden Gottes Willen niemals begreifen oder auch nur
annähernd erfassen. Ich habe auf jeden Fall wieder intensiv das Beten gelernt.
Es ist für mich ganz neu zu einer Ressource geworden. Ein entscheidendes Bild
für mich war die Kirche im schwer betroffenen Ort Schuld: Dort stand an der
Tür "Rückzugsraum". Wenn wir im Katastrophengebiet unterwegs waren,
habe ich immer versucht, an Kirchen oder Kapellen zu halten und zwei bis drei
Minuten reinzugehen. Das war mein Rückzugsort und es war mir wichtig. Meine
Gottesbeziehung wird immer spürbar konkret in einem solchen Einsatz, im Angesicht
von Leid, Sterben und Tod. Sie wird dabei aber auch massiv in Frage gestellt,
denn eigentlich müsste man verzweifeln. An diesen Orten spüre ich dem Ganzen
nach. Dort kann ich mit Gott im Gebet auch hadern. Wenige Minuten als Ladegerät
für meine inneren Akkus, um im Anschluss wieder ins Schadensgebiet rauszugehen.
Atheistische Anmerkungen: Ja, den Willen von fiktiven Figuren zu begreifen,
das geht gar nicht, wir wissen ja auch nicht was der Rübezahl uns antun kann
und ob uns nicht doch einmal der Dracula beißt! Und an den braven Osterhasen
glauben wir alle - Glaubige und Ungläubige - ja schon längere Zeit nimmer!
Ah, ein Theologe hadert mit Gott? Darf er das? Oder wird er, wenn er's zu arg
tut, enttheologisiert? Oder denkt er vielleicht etwas mehr nach? Warum die Überschwemmunegn?
Hat die Gott geschickt? Oder hat er sie bloß nicht verhindert? Aber solche
Fragen stellt ein Theologe ja doch wohl eher nicht laut in der Öffentlichkeit...
Frage: Trotzdem: Wie haben Sie es geschafft, nicht an Gott zu verzweifeln?
Deißenböck: Der Einsatzabschnittsleiter am Nürburgring hat jede morgendliche
Lagebesprechung ganz "untheologisch" mit den gleichen Sätzen beendet:
"Sie sind hier, um mit einem Lächeln die Menschen zum Scheinen zu bringen.
Ich bin stolz auf Sie alle, sind Sie es auch. Gehen Sie hinaus und It's time
to shine!". Ich denke, seine Worte drücken genau das aus, was unser Auftrag
als Menschen in solchen Situationen ist und vielleicht ist es ja Gottes Wille,
dass wir anderen mit unserem Tun wieder ein Lächeln auf die Lippen zaubern.
Auf dem Gang nach Emmaus hat Jesus auch nichts anderes getan. Er kam dazu, ging
einen Teil des Weges mit.
Atheistische Anmerkungen: Ja, da wird der ganze Schaden heutzutage also
weggelächelt? Oder ist es nicht doch eher so, dass Leute in Überschwemmungsgebieten
Versicherungen haben, die den Schaden entschädigen müssen? Und staatliche
Hilfe wird es doch wohl in solchen Fällen auch geben! Die katholische Kirche
wird möglicherweise Sammlungen machen, aber in die heilige eigene Kasse wird
sie sicherlich nicht greifen! Der Jesus im Gang nach Emaus war laut Bibel der
auferstandene Jesus, den die Jünger, die ihn auf diesem Weg trafen, nicht wiedererkannten,
er bepredigte sie ausführlich. Erkennen taten sie ihn erst beim Abendessen,
als der Jesus das Brot brach. Was das mit dem Hochwasser zu tun hat, theologisiert
der Deißenböck nicht. Aber lassen wir's gut sein, Götter haben ja damit auch
nicht mehr zu tun als der Rübezahl und der Osterhase, darum spielt Gott in
der Welt zunehmend weniger eine Rolle, eine große Rolle hat er schließlich
nur gespielt, als Religion noch Bürgerpflicht war...