Reinhard Lauterbach schildert diesen Hintergrund am 9.3.2022 in der "Jungen Welt", die sich als einzige parteiunabhängige deutsche Tageszeitung definiert, das Blatt war von seiner Gründung 1947 bis 1990 das Zentralorgan der FDJ (Freie Deutsche Jugend) in der DDR, jetzt wird die Zeitung von einer Genosssenschaft herausgegeben.
Gedankengut von Faschisten in ukrainischer Gesellschaft mehr und mehr
normalisiert. Deren Bataillone heute in reguläre Strukturen eingegliedert
Wolodimir Selenskij verleiht im ukrainischen Parlament Dmitro Kozjubailo, Kommandeur
der faschistischen Organisation »Rechter Sektor«, den Titel »Held der Ukraine«,
1.12.2021 (Kiew) - YouTube-Screenshot (der Beitrag wurde am 5.12.2021 online
gestellt)
Mit dem zeitweisen Rückgang der Kämpfe im Donbass ab dem Frühjahr 2015
ist es relativ still um die wichtigsten Sturmtruppen der Ukraine geworden:
die Faschisten, die sich zuvor auf dem Maidan als Avantgarde des Staatsstreiches
und anschließend als kampffähigster Teil der Kiewer Armee herausgestellt hatten.
Das hatte mehrere Gründe. Die ukrainische Armee ist in der Zwischenzeit erheblich
aufgerüstet und modernisiert worden, so dass sie mittlerweile auch in der Lage
ist, den russischen Truppen substantiellen Widerstand entgegenzusetzen. Der
zweite Grund ist, dass die Faschistenbataillone nach 2015, als sie aus jeder
staatlichen Disziplin herauszufallen drohten und sich anschickten, ihren Unterhalt
als normale Schläger- und Mordbanden zu verdienen, in die regulären militärischen
Strukturen eingegliedert wurden. Das sicherte ihnen regelmäßige Finanzierung
und band sie halbwegs in die Kommandokette ein.
Auf diese Weise wurde das ursprünglich mit Spenden ukrainischer Oligarchen
finanzierte Bataillon »Asow« - es trat als »Sondereinheit der Miliz« in
die Geschichte ein, als es am 9. Mai 2014, eine Woche nach dem Pogrom von Odessa,
in Mariupol Feiern der Bürger zum sowjetischen Siegestag zusammenschoss - auf
Regimentsstärke aufgestockt und der dem Innenministerium von Arsen Awakow unterstellten
Nationalgarde angeschlossen. Das heißt, es hat eine Legalisierung und Institutionalisierung
der faschistischen Kämpfer und ihrer Verbände stattgefunden. Heute besteht
das Gros der ukrainischen Truppen in Mariupol aus »Asow«-Leuten. Sie haben
sich in den Wohnvierteln der Stadt verschanzt und sind offenbar bestrebt, die
Zivilisten als lebende Schutzschilde für sich selbst in der Stadt zu halten.
Ähnlich war es mit anderen Einheiten, so dem aus entlassenen Kriminellen rekrutierten
Bataillon »Aidar«. Nachdem sogar Amnesty International über Kriegsverbrechen
von seiten dieser Einheit berichtet hatte, wurde sie aus dem Rampenlicht herausgehalten,
blieb aber bestehen. Anfang dieses Monats wurde ein ehemaliger Kommandeur der
Terrortruppe, Maxim Martschenko, von Präsident Wolodimir Selenskij zum neuen
Gouverneur der Region Odessa ernannt. Seine Mission bedarf keiner großen Erläuterung:
eine Region, in der »prorussische« Neigungen befürchtet werden, im Griff
halten. Genau wie es Kiew Ende April 2014 gemacht hat, als es eine Bande vom
»Asow«-Gründer Andrij Bilezkij rekrutierter rechter Charkiwer Fußballhooligans
in einen Zug setzte und unter dem Vorwand eines Ligaspiels nach Odessa entsandte,
wo die Lage damals auf der Kippe zu stehen schien. Die Folge war der Pogrom
vom 2. Mai mit seinen 48 bei lebendigem Leib verbrannten oder zu Tode geprügelten
Maidan-Gegnern.
In den Jahren des »eingefrorenen Konflikts« im Donbass sah es so aus, als
hätte sich der ukrainische Faschismus wieder auf den Status einer lautstarken
Minderheit zurückentwickelt, den er traditionell innehatte. Die Teilnehmerzahlen
der regelmäßig veranstalteten Kundgebungen etwa zum Geburtstag von Stepan
Bandera (Nazikollaborateur, Kriegsverbrecher, 1909-1959, jW) gingen kontinuierlich
zurück, sogar ein keiner faschistoiden Sympathien verdächtiges Portal wie
Strana.news schrieb über die »begrenzte Mobilisierungsfähigkeit der Radikalen«.
Aber das ist eine Täuschung. Denn ein dritter Aspekt ist demgegenüber wenig
beachtet worden, obwohl er politisch der bedenklichste ist: Es geht um die »Normalisierung«
faschistischen Gedankenguts in der ukrainischen Gesellschaft. Bandera wird in
den Schulbüchern als Nationalheld dargestellt, der Gründungstag der von seiner
»Organisation Ukrainischer Nationalisten« (OUN) - nicht durch Bandera selbst,
er saß zu diesem Zeitpunkt in der Prominentenbaracke des KZ Sachsenhausen,
wo die Nazis potentielle Bündnispartner aus den okkupierten Gebieten zur weiteren
Verwendung versammelt hatten - 1942 gegründeten »Ukrainischen Aufstandsarmee«
(UPA), der 14. Oktober, wurde zum offiziellen Staatsfeiertag und Ersatz des
sowjetischen »Tags des Vaterlandsverteidigers« am 23. Februar.
Dabei hat sich die Kontextualisierung der Aktivitäten der OUN-Faschisten radikal
gewandelt. Sie werden heute als das dargestellt, was sie subjektiv vermutlich
auch waren: in erster Linie radikale ukrainische Nationalisten, die sich auf
der Suche nach Bündnispartnern an die hielten, die in den 1930er und 40er Jahren
zu haben waren. Da die sowjetische Geschichtserzählung als ideologische Konkurrenz
heute in der Ukraine tabuisiert ist, stehen die Leute Banderas als ukrainische
Patrioten da, ihre Mitwirkung an den Morden der deutschen Einsatzgruppen wird
totgeschwiegen oder heruntergespielt. Im Bereich des Alltagsbewusstseins zeigt
sich diese »Normalisierung« des ukrainischen Faschismus beispielsweise darin,
dass die Molotowcocktails, die Kiewer Mittelschichtler zur Abwehr eines russischen
Angriffs auf die Hauptstadt basteln, laut einer Reportage der polnischen Gazeta
Wyborcza inzwischen als »Bandera-Smoothies« bezeichnet werden.
Vor diesem Hintergrund gewinnt eine aktuelle Äußerung von Präsident Selenskij
gegenüber dem US-Fernsehsender ABC an fataler Tragweite.
Er sagte, über die Zukunft der Krim und des Donbass sowie über die Neutralität des Landes könne man mit Russland zur Not reden, aber dessen Forderung nach einer »Entnazifizierung der Ukraine« bedeute »die Zerstörung der Ukraine als Nation«, sie sei »ein Völkermord wie in den vierziger Jahren«. Das heißt im Klartext: Ein durch seine Kollaboration mit dem Naziregime kompromittierter Nationalismus wird zum Kernelement ukrainischen Nationalbewusstseins hochstilisiert. Und das durch einen Präsidenten mit jüdischen Wurzeln.