Dass organisierte Religion in erster Linie ein Herrschaftsinstrument ist,
dürfte sich herumgesprochen haben. Eine ideologische Monokultur ist eben politisch
wesentlich einfacher zu bewirtschaften als die polyideologischen Gesellschaften
des 21. Jahrhunderts mit ihrer bereichernden Pluralität und ihrem identitären
Anspruchsdenken.
Die homogenisierende Kraft der verweltlichten Religion wurde geschichtlich immer
wieder neu entdeckt. Der Bogen kann von den römischen Kaisern Theodosius und
Konstantin im vierten Jahrhundert bis in die Gegenwart zu Wladimir Putin oder
Narendra Modri gespannt und in die Vergangenheit und Zukunft überspannt werden.
Im 20. Jahrhundert hatten die politischen Führer mit totalitärer Schlagseite
das Wesen der Religion soweit durchschaut, dass sie gemäß dem ersten
Gebot (Ex 20,3) handelnd gleich gar keine Götter neben sich (oder der Partei)
duldeten und das dritte Gebot sehr wörtlich nahmen: Denn ich, der Herr, dein
Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge
ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation
(Ex 20,5).
Stalin, Hitler, Mao oder Kim Il-Sung handhabten das de facto so; und sie erzeugten
ihre eigenen Politreligionen und Mythologien.
Es wäre vollkommen absurd, Nationalsozialismus, Bolschewismus, Stalinismus,
Maoismus oder die nordkoreanische Chuch’e-Ideologie als Folge oder im Geiste
der Aufklärung zu sehen, nur weil sie Religion aus der politischen Herrschaft
verdrängt haben. Wesentliche Merkmale wie die Freiheit individueller Selbstbestimmung,
grundlegende Bürger- und Menschenrechte stehen totalitären Vorstellungen diametral
entgegen. John Gray sieht eher die Parallelität der Ideologien: »Der Nationalsozialismus
war eine politische Religion, die sich zum einen auf pseudowissenschaftliche
Theorien stützte, zum andern aber auch aus Mythen speiste.« (aus "Ohne
Bekenntnis")
In meinem Buch widme ich nicht nur diesen Politreligionen ein Kapitel, sondern
auch dem Wiedererstarken der Religion in Osteuropa, vor allem aber in Russland.
Im Überwinterungsmodus wurde die staatlich verordnete Gottlosigkeit ein Dreivierteljahrhundert
lang von der subkutanen Religiosität ausgesessen, um bei Wladimir Putin wieder
politische Bühnen nützen zu können.
Erlöserkirche in Moskau - davor Niko Alm mit seinem Nudelsieb, das er damals
auch auf seinem Führerscheinbild auf hatte, siehe info0538.html
-
Gott straft nicht direkt, aber er bedient sich eines willigen Staates zur gewaltsamen
Durchsetzung von Gottesfürchtigkeit. Selbst in Russland kam es nach der Beseitigung
des kommunistischen Regimes zu einer neuen Umklammerung zwischen Republik und
Religion. Ein Naheverhältnis, das von Präsident Wladimir Putin bei sich
oft bietenden Gelegenheiten abgefeiert wird und auf Gegenseitigkeit beruht.
Die russisch-orthodoxe Kirche unter dem ehemaligen KGB-Mitarbeiter und Putin-Vasall
Kyrill I. hat sich als willfährige Erfüllungsgehilfin eines autokratischen
Regimes neu etabliert, das neben vielen anderen Ungerechtigkeiten auch nicht
scheut, junge Frauen, die keine Verbrechen begangen und nicht viel mehr als
ein bisschen Radau in der Erlöserkirche verursacht haben, jahrelang wegzusperren.
(Wenn in Wien wie vor kurzem der Stephansdom die Nachtruhe stört, wird nicht
einmal ein Bußgeld für die Ruhestörung verhängt.)
Für die Gewogenheit der russisch-orthodoxen Kirche bedankte sich Putin in
aller Weltöffentlichkeit mit einem Schauprozess an den Mitgliedern des Kollektivs
Pussy Riot. Nach ihrem Punkgebet in der Erlöserkirche, das mit milder Lärmbelästigung
und einer Handvoll Kraftausdrücke als friedliche Form des Protests gelten darf,
wurden Nadja Tolokonnikowa und Mascha Aljochina 2012 nach monatelanger U-Haft
und einem öffentlichen Prozess für zwei Jahre in russischen Gefängnissen
weggesperrt.
Niko Alm mit Pussy Riot, 2015
Die russisch-orthodoxe Kirche ist in Österreich seit 2013 eine gesetzlich anerkannte Kirche und verfügt damit über (fast) die gleichen Sonderrechte, Zuwendungen und Steuererleichterungen wie all die anderen 15 Religionsgemeinschaften mit dem gleichen Status. Selbstverständlich wäre es in einer Republik, die es mit der Neutralität gegenüber Kultur, Weltanschauung, Ideologie und Religion erst meint, nur angemessen, auf diese Privilegierungen vollständig zu verzichten. Für alle.