Martin Schmitz hat als Kind Missbrauch durch einen Priester erlebt. Er ist Sprecher
des Beirats, der das Entstehen der Studie über die Missbrauchsfälle im Bistum
Münster begleitete. Bild © Daniela Wakonigg
Gestern wurde die Studie über Missbrauchsfälle im Bistum Münster veröffentlicht. Der hpd sprach hierüber mit Martin Schmitz, der selbst als Kind Missbrauch durch einen Priester erlebte und Sprecher des Beirats ist, der das Entstehen der Studie begleitete.
hpd: Herr Schmitz, gestern wurde die Studie zu den Missbrauchsfällen
im Bistum Münster von 1945 bis 2020 vorgestellt, an der ein Wissenschaftlerteam
der Universität Münster drei Jahre lang gearbeitet hat. Sie selbst saßen
im Beirat, der das Entstehen der Studie begleitet hat. Was sagen Sie denn zu
den Ergebnissen der Studie?
Martin Schmitz: Ich halte sie für sehr aufschlussreich. Es wird deutlich,
wie das System Kirche funktioniert hat. Man erfährt viel über die Umstände,
die nicht nur den Missbrauch selbst betreffen, sondern den innerkirchlichen
Umgang damit, die Versetzungstaktik, die Verknüpfungen untereinander und so
weiter. Und deswegen halte ich diese Studie wirklich für eine geglückte Sache,
für eine gute Sache. Es ist auch gut, dass sich die Kirche da völlig rausgehalten
hat, dass das Bistum letztendlich nur das Geld zur Verfügung gestellt hat,
aber die Schwerpunkte der Studie durch die Wissenschaftler bestimmt worden sind.
Das hat schon dazu beigetragen, dass diese Studie deutlich macht, was deutlich
zu machen ist.
Unter anderem macht die Studie deutlich, dass zwischen 1945 und 2020 196
Kleriker im Bistum Münster zu Missbrauchstätern wurden und 610 Minderjährige
von deren Missbrauch betroffen waren – wobei dies nur die bekannten Fälle
sind, während die Wissenschaftler von einer 8 bis 10-fach höheren Dunkelziffer
bei den Betroffenen ausgehen. Sie selbst, Herr Schmitz, sind einer der 610 in
der Studie genannten Betroffenen und waren als Kind im münsterländischen Rhede
vom Missbrauch durch einen Priester betroffen. Wie alt waren Sie da?
Ich war zehn Jahre alt. Im Alter von 10 bis 12 habe ich über zwei Jahre
hinweg Missbrauch erlebt durch einen Kaplan, der – wie in der Studie jetzt
ziemlich gut und deutlich aufgezeigt wird – Serientäter war. Er hat viele
Kinder missbraucht, wurde zwischenzeitlich mal zur Rechenschaft gezogen, war
also ein straffällig gewordener, verurteilter Täter, wurde aber vom Bistum
immer nur weiter versetzt und hat immer wieder neu Kinder missbraucht.
In der Studie ist die Rede von einem spezifischen katholischen Schamgefühl
und Klerikalismus, die dazu führten, dass es für Betroffene schwierig war,
über den Missbrauch – und noch dazu den Missbrauch durch einen Priester –
überhaupt zu sprechen. Haben Sie das auch so erfahren?
Ich hab' das als Kind tatsächlich genauso erfahren. Ich war Messdiener –
und ich war begeisterter Messdiener. Ich bin gern dort hingegangen, fand es
auch toll, diese ganze Liturgie zu erleben, und und und. Für mich waren Priester
eben näher an Gott als alle anderen und das galt bei uns im Zuhause sicherlich
genauso. Da ist diese Einstellung entstanden. Es war einfach ein großes Problem,
dass ich mit meinen Eltern darüber auch nicht hätte reden können. Denn wenn
ich denen das erzählt hätte, hätte man eben gesagt: "Sowas macht ein
Priester nicht", und ich hätte ein paar heiße Ohren bekommen und das
wäre es gewesen.
Haben Sie denn als Kind versucht, sich irgendjemandem zu öffnen, Freunden
vielleicht?
Das ging überhaupt nicht. Als Kind hätte ich das, was da geschehen ist, nicht
mal benennen können. Ich hatte eigentlich gar keine Worte dafür. Selbst wenn
ich gewollt hätte, hätte ich es also überhaupt nicht erzählen können. Darüber
hinaus hat mir der Kaplan dann irgendwann auch gesagt, dass es doch schön ist,
wenn zwei Menschen sich so lieb haben. Das wird der liebe Gott doch gern sehen
und das wäre jetzt unser Geheimnis, da dürfen wir nichts von erzählen. Und
das war für mich genug, dass ich da nie was von erzählt habe.
Und wie lange hat es gedauert, bis Sie dann endlich darüber sprechen
konnten – und gesprochen haben?
Ich habe lange Zeit versucht, die Sache für mich zu verarbeiten. Was schiefgegangen
ist. Ich habe als Jugendlicher Selbstmordversuche unternommen, ich habe
mein ganzes Leben irgendwie völlig durcheinander und chaotisch verbracht, bis
ich mich dann letztendlich selbstständig gemacht habe, meine Frau kennengelernt
habe und wir dann zwei Jungen bekommen haben. Bis dahin hatte ich die ganze
Sache völlig verdrängt, die war völlig weg. Ich hatte keine Erinnerung mehr
daran. Und erst als meine Kinder geboren wurden, das war um das Jahr 2000, kamen
nach und nach die Erinnerungen wieder. Und dann bin ich entsprechend in die
Knie gegangen. Es wurde immer schlimmer. Depressionen, psychogene Krampfanfälle
bis es dann wieder nur noch um Selbstmordgedanken ging. Und als dann mein Vater
verstorben ist und ich anlässlich seiner Beisetzung zum ersten Mal wieder in
die Kirche gekommen bin, ging danach gar nichts mehr. Ich bin zusammengebrochen.
Mein Kreislauf hat völlig versagt. Und das war dann der Punkt, wo einfach deutlich
war, dass ich so nicht weitermachen kann und dass ich mir Hilfe suchen muss.
Ich hab dann Psychotherapeuten aufgesucht und habe über sechs Jahre Therapie
gemacht, damit ich überhaupt wieder zurück ins Leben kam.
Wie sieht es eigentlich mit dem Umgang des Bistums Münster mit Betroffenen
wie Ihnen aus?
Der ist nach wie vor schwierig. Es wird in Nuancen besser, aber eben nur
in Nuancen. Ich habe meinen Fall 2012 dem Bistum angezeigt und habe dann
über den Zeitraum von sechs Jahren versucht, dass dieser Fall öffentlich
gemacht wird. Ich wollte nicht selber an die Presse gehen oder einen Skandal
heraufbeschwören, sondern ich wollte, dass das Bistum diesen Fall öffentlich
macht. Ich habe mit drei Pfarrern vor Ort gesprochen, ich habe mit Leuten im
Bistum gesprochen. Es ist immer verzögert, immer verschoben worden. Nach sechs
Jahren habe ich dann schließlich eine Einladung bekommen nach Berlin, um dort
an einem öffentlichen Hearing teilzunehmen, meine Geschichte dort zu erzählen.
Und daraufhin hab ich beim Bistum nachgefragt und gesagt: "Was soll ich
denn da jetzt erzählen, dass ihr die Sache immer weiter verschleppt?".
Das hat letztendlich dazu geführt, dass endlich etwas in Bewegung kam. Und
dann ist Ende 2018 wirklich auch in der Öffentlichkeit der Name des Täters
und des damals zuständigen Generalvikars öffentlich gemacht worden.
Leben die beiden noch?
Nein, die leben leider nicht mehr. Allerdings ist es so, dass der damalige Generalvikar
– der Mann, der später dann auch Bischof war – doch schon deutlich an Reputation
dadurch eingebüßt hat, dass er auf einmal als Vertuscher mit Missbrauchsfällen
in Verbindung gebracht wird. Und das wird jetzt in der Studie deutlich und ganz
konkret so benannt. Das hat für uns als Betroffene den großen Vorteil, dass
ich mich jetzt nicht mehr rechtfertigen muss, warum ich anklage, sondern die
Anklage kommt von wissenschaftlicher Seite. Das nimmt einfach ein wenig Druck.
Und ich hoffe, dass es auch bei anderen Betroffenen so ist, dass es ein bisschen
zum Heilungsprozess beiträgt.
Sie selbst engagieren sich ja öffentlich sehr stark für eine Aufarbeitung
des Missbrauchs in der katholischen Kirche. Was ist Ihr Antrieb?
Ich möchte einfach, dass sich Dinge ändern. Das ist für mich das Wichtige.
Es geht nicht darum, dass ich was gegen die Kirche unternehme, oder ob ich gerne
in der Öffentlichkeit stehe. Das ist sicherlich nicht so, ich bin immer froh,
wenn ich meine Ruhe habe. Aber ich möchte, dass sich etwas ändert. Ich möchte
etwas für die Betroffenen erreichen. Das ist meine Antriebsfeder. Und deswegen
gebe ich Interviews, engagiere mich an vielen Stellen und schreibe im Augenblick
ein Buch über meine eigene Geschichte. Ein Buch, das den Betroffenen zeigen
soll, dass das Leben nicht vorbei ist, auch wenn man so etwas erlebt. Und ein
Buch, das in ganz einfacher, simpler Sprache mein Leben erzählt, damit viele
Leute verstehen, was es tatsächlich heißt, wenn gesagt wird "Betroffene
haben lebenslänglich".
Die Studie zu den Missbrauchsfällen im Bistum Münster ist ja in vielerlei
Hinsicht sehr sehr deutlich und hat viele innerkirchliche und typische katholische
Strukturen und Mechanismen offen gelegt, durch die der sexuelle Missbrauch in
diesem Ausmaß entstehen konnte. Glauben Sie, dass die Studie dazu führen wird,
dass sich in der katholischen Kirche etwas ändert?
Wenn sich etwas ändern wird, dann vielleicht in Nuancen. Eine wirkliche
Veränderung wird es nicht geben. Dazu wäre eine Strukturreform der katholischen
Kirche notwendig. Und dass es die gibt, ist nicht absehbar. Wir haben jetzt
eine sehr gute Studie vorliegen, die aufklärt, was folgen muss, ist die Aufarbeitung.
Und die wird, glaube ich, im Bistum Münster wie auch in vielen anderen Bistümern
einfach nicht angefangen. Deswegen ist meine Forderung immer wieder, dass der
Staat nicht länger einfach nur zusieht, sondern eingreift. Dass es so etwas
gibt wie eine Wahrheitskommission, die ermitteln darf, die aufklären darf,
die den Bischöfen sagen kann, was sie zu tun und zu lassen haben. Das wäre
nötig, damit da überhaupt Aufarbeitung in einem ausreichenden Maß stattfindet.