Ende des Kemalismus?

In der Türkei findet am 12. September 2010 ein Referendum zu umfassenden Verfassungsänderungen statt.

Dazu einiges aus der türkischen Geschichte. Das riesige Osmanische Reich als die Hauptform des islamischen Imperialismus war 1920 faktisch untergegangen als der damalige Sultan Muhammad VI. im Friedensvertrag auf alle Besitzungen außerhalb Kleinasiens verzichten musste.

Mustafa Kemal Atatürk beseitigte das Feudalsystem (Kalifat) und änderte autoritär das türkische Staatssystem. Er richtete sich nach den Verhältnissen in Europa, speziell nach denen in der Schweiz und Frankreich und führte als besonders wichtiges Element die Trennung von Staat und Religion ein, allerdings in der Form, dass die Religion dem Herrschaftsbereich des Staates untergeordnet wurde. Den Titel "Atatürk" (= "Vater der Türken") erhielt er für seine Verdienste um die gelungene Reorganisation des türkischen Staates. Ihm war klar, dass der Islam im Volk weiter seine Rolle spielte und darum sorgte er dafür, dass der "Kemalismus" als Staatsgrundlage fixiert wurde.
Die Prinzipien des Kemalismus sind: Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität, Nationalismus als Wendung gegen den Vielvölkerstaat des osmanischen Zuschnitts, Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen, Laizismus, d.h. Trennung von Staat und Religion, und Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung.

Die Absicherung erfolgte durch das Rechtssystem (Oberste Gerichtshöfe) und die Armee. Als Atatürk 1938 starb, hinterließ er seine Vorstellung von einer an der europäischen Aufklärung stark orientierten Türkei gut gesichert. Es gab in der Folge mehrer Militärputsche, wenn die streng kemalistisch ausgerichteten Generälen der Ansicht waren, die politische Entwicklung entferne sich vom Kemalismus. Es soll jetzt nicht Militärdiktaturen das Wort geredet werden, einen positiven Effekt hatte dieses System jedenfalls in Richtung Islamismus: der politische Islamismus hatte bisher keine Chance.

Jetzt bekommt er sie.
Zurzeit regiert die als gemäßigt muslimisch und strukturreformerisch auftretende Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP) mit Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Seit Jahren arbeitet diese Partei gegen die Trennung von Staat und Religion und trachtet die Macht des Militärs zu brechen. Zurzeit laufen eine Serie von Verfahren gegen höhere Offiziere wegen "Verschwörung", vermutlich formal durchaus zurecht. Vor noch gar nicht so langer Zeit hätte das Militär einen islamistisch eingestellten Politiker längst aus dem Verkehr gezogen. In der jetzigen Zeit - wo sogar über einen türkischen EU-Beitritt verhandelt wird - ist man sich offenbar im Militär uneinig, wie weit man den Rückbau des säkularen Kemalismus dulden soll oder muss. Somit kann es sein, dass der Einfluss des europäischen demokratischen Systems dazu führen wird, dass in der Türkei die in den 1920er- und 1930er-Jahren gesetzte Hinwendung zur Aufklärung beendet werden kann, um es längerfristig durch ein islamistisches System mit einem Hang zum alten osmanischen Imperialismus zu ersetzen.

Zitiert werden immer wieder Erdogans Minaretten-Raketen-Sager
, z.B. am 29.12.2009 in der Welt so: "Für die Politisierung des Islams und der Moscheen ist z.B. der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der gerne polarisiert, das beste Beispiel. Er zitiert so gerne den Vers des Dichters Ziya Gökalp aus Diyarbakir, der sich dem Türkentum widmete. Er lautet: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." So ein Islamverständnis ist in jeder Form abzulehnen."

Ja, so ein Islamverständnis ist abzulehnen. Und wenn Erdogans Partei am 12. September 2010 die Volksabstimmung gewinnt und mit seiner Verfassungsreform Zug um Zug den Kemalismus abschaffen kann, dann wird es möglich sein, dass der politische Islamismus, der dann den vollen Zugriff auf die staatlichen Religionsämter in der Türkei hätte, seine Anhänger in Europa über ATIB (Türkisch-Islamische Union in Europa / Avrupa Türk Islam Birligi) bestens für islamistische Interessen in Europa instrumentieren könnte. ATIB ist eine bereits jetzt sehr wirkungsvoll agierende Außenstelle der türkischen Regierung.

Die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi CHP) ist die größte türkische Oppositionspartei, Mitglied der Sozialistischen Internationale und bekennt sich zum Kemalismus, sie agiert entschlossen gegen die Verfassungsänderungen. Ebenso ist die Demokratische Linkspartei (Demokratik Sol Parti DSP) eingestellt.

Die geplanten Verfassungsänderungen machten die türkische Verfassung formal demokratischer als die bestehende, aber durch die damit einhergehende Schwächung der kemalistischen Sicherungsstrukturen wird ein politischer Rückschritt hinter den Fortschritt der kemalistischen Erneuerungen politisch und rechtlich leichter möglich.

Deswegen sollte man hoffen, dass Erdogan nicht durchkommt. Eine Entwicklung zu einer islamistischen Türkei wäre aufgrund des doch recht beachtlichen Anteils türkischer Einwanderer in Europa ein Riesenproblem.

PS vom 26.10.10: Die Hoffnung blieb unerfüllt, die Islampartei hat sich durchgesetzt. Siehe zu den schon merkbaren Folgen Info Nr. 317.