Dazu einiges aus der türkischen Geschichte. Das riesige Osmanische Reich als
die Hauptform des islamischen Imperialismus war 1920 faktisch untergegangen
als der damalige Sultan Muhammad VI. im Friedensvertrag auf alle Besitzungen
außerhalb Kleinasiens verzichten musste.
Mustafa Kemal Atatürk beseitigte das
Feudalsystem (Kalifat) und änderte autoritär das türkische Staatssystem. Er richtete sich nach den Verhältnissen in Europa, speziell nach denen
in der Schweiz und Frankreich und führte als besonders wichtiges Element
die Trennung von Staat und Religion ein, allerdings in der Form, dass die
Religion dem Herrschaftsbereich des Staates untergeordnet wurde. Den
Titel "Atatürk" (= "Vater der Türken") erhielt er für seine
Verdienste um die gelungene Reorganisation des türkischen Staates. Ihm war klar,
dass der Islam im Volk weiter seine Rolle spielte und darum sorgte er dafür,
dass der "Kemalismus" als Staatsgrundlage fixiert wurde.
Die
Prinzipien des Kemalismus sind: Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität,
Nationalismus als Wendung gegen den Vielvölkerstaat des osmanischen Zuschnitts,
Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse
gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von
Reformen, Laizismus, d.h. Trennung von Staat und Religion, und Etatismus mit
partieller staatlicher Wirtschaftslenkung.
Die Absicherung erfolgte
durch das Rechtssystem (Oberste Gerichtshöfe) und die Armee. Als
Atatürk 1938 starb, hinterließ er seine Vorstellung von einer an der europäischen
Aufklärung stark orientierten Türkei gut gesichert. Es gab in der Folge mehrer
Militärputsche, wenn die streng kemalistisch ausgerichteten Generälen der Ansicht
waren, die politische Entwicklung entferne sich vom Kemalismus. Es soll jetzt
nicht Militärdiktaturen das Wort geredet werden, einen positiven Effekt hatte
dieses System jedenfalls in Richtung Islamismus: der politische Islamismus
hatte bisher keine Chance.
Jetzt
bekommt er sie. Zurzeit regiert die als gemäßigt muslimisch und strukturreformerisch
auftretende Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und
Aufschwung, AKP) mit Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Seit Jahren
arbeitet diese Partei gegen die Trennung von Staat und Religion und trachtet
die Macht des Militärs zu brechen. Zurzeit laufen eine Serie von Verfahren gegen
höhere Offiziere wegen "Verschwörung", vermutlich formal durchaus
zurecht. Vor noch gar nicht so langer Zeit hätte das Militär einen islamistisch
eingestellten Politiker längst aus dem Verkehr gezogen. In der jetzigen Zeit
- wo sogar über einen türkischen EU-Beitritt verhandelt wird - ist man sich
offenbar im Militär uneinig, wie weit man den Rückbau des säkularen Kemalismus
dulden soll oder muss. Somit kann es sein, dass der Einfluss des europäischen
demokratischen Systems dazu führen wird, dass in der Türkei die in den 1920er-
und 1930er-Jahren gesetzte Hinwendung zur Aufklärung beendet werden kann, um
es längerfristig durch ein islamistisches System mit einem Hang zum alten osmanischen
Imperialismus zu ersetzen.
Zitiert werden immer wieder Erdogans Minaretten-Raketen-Sager, z.B.
am 29.12.2009 in der Welt so: "Für die Politisierung des Islams
und der Moscheen ist z.B. der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan,
der gerne polarisiert, das beste Beispiel. Er zitiert so gerne den Vers des
Dichters Ziya Gökalp aus Diyarbakir, der sich dem Türkentum widmete. Er lautet:
"Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die
Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." So ein Islamverständnis
ist in jeder Form abzulehnen."
Ja, so ein Islamverständnis ist abzulehnen. Und wenn Erdogans Partei am 12. September 2010 die Volksabstimmung gewinnt und mit seiner Verfassungsreform Zug um Zug den Kemalismus abschaffen kann, dann wird es möglich sein, dass der politische Islamismus, der dann den vollen Zugriff auf die staatlichen Religionsämter in der Türkei hätte, seine Anhänger in Europa über ATIB (Türkisch-Islamische Union in Europa / Avrupa Türk Islam Birligi) bestens für islamistische Interessen in Europa instrumentieren könnte. ATIB ist eine bereits jetzt sehr wirkungsvoll agierende Außenstelle der türkischen Regierung.
Die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi CHP) ist die größte
türkische Oppositionspartei, Mitglied der Sozialistischen Internationale und
bekennt sich zum Kemalismus, sie agiert entschlossen gegen die Verfassungsänderungen.
Ebenso ist die Demokratische Linkspartei (Demokratik Sol Parti DSP) eingestellt.
Die
geplanten Verfassungsänderungen machten die türkische Verfassung formal demokratischer
als die bestehende, aber durch die damit einhergehende Schwächung der kemalistischen
Sicherungsstrukturen wird ein politischer Rückschritt hinter den Fortschritt
der kemalistischen Erneuerungen politisch und rechtlich leichter möglich.
Deswegen sollte man hoffen, dass Erdogan nicht durchkommt. Eine Entwicklung zu einer
islamistischen Türkei wäre aufgrund des doch recht beachtlichen Anteils türkischer
Einwanderer in Europa ein Riesenproblem.
PS vom 26.10.10: Die Hoffnung
blieb unerfüllt, die Islampartei hat sich durchgesetzt. Siehe zu den schon merkbaren
Folgen Info Nr. 317.