Volkskirchenzerfall als Chance?

Nach einem Bericht des ORF äußerte sich der Freiburger Theologe Prof. Gisbert Greshake am 20.4.2011 am Salzburger Priestertag hoffnungsvoll über den "Zerfall der Volkskirche". Den dieser Zerfall biete die Chance "neue geistliche Zentren zu bilden, wo die Menschen Kraft aus dem Evangelium tanken können". Die jetzige Situation der Kirche sehe er wie im Sketch "Dinner for one", wo "die Rollen der Gäste immer weiter gespielt werden, obwohl ihre Figuren längst tot sind". Anm.: Man erinnere sich, der Butler fragt die Gastgeberin: "same procedure like last year?", die Antwort: "same procedure like every year" und der Butler serviert nicht nur, sondern konsumiert auch stellvertretend für die imaginären Gäste.

Greshake stellte fest, es sei noch nie so viel pastoraltheoretisch organisiert worden "und trotzdem sind wir immer erfolgloser". Diese richtige Erkenntnis führt aber bloß wieder zu sinnlosen Folgerungen, der Theologe meint, das Ziel sei die Einheit mit Gott und Einheit mit den Menschen, "Kirche ist das Zeichen der beginnenden Gemeinschaft mit Gott". Somit wird also die Kirche immer erfolgloser und gleichzeitig beginnt eine "Gemeinschaft mit Gott"? Das soll einheitsstiftend durch die "Verkündigung der frohen Botschaft" und der "Feier der Sakramente" erfolgen. Die Christen sollten Zeit für die Menschen haben, Priester und Laien hätten gemeinsam den Auftrag "Volk Gottes zu sein". "Die Kirche der Zukunft wird auch die Kirche der Laien sein, oder sie wird nicht mehr sein."

Es ist immer wieder unterhaltsam, mit welchem beschwörenden Eifer manche Kleriker glauben, man könnte das Rad der Geschichte zurückdrehen. Religion war früher Schicksal, es war in Europa viele Jahrhunderte unvermeidlich, katholisch zu sein, in den katholischen Herrschaftsgebieten hielt dies bis tief ins 20. Jahrhundert an, in manchen Bereichen (z.B. Polen oder Malta oder Irland) ist es auch heute fast noch so.

Aber das alte System der Weitergabe der Religion innerhalb der Familien ist mit dem ökonomischen, kulturellen und bildungsmäßigen Aufstieg breiter Volksschichten obsolet geworden, Religion wurde privatisiert und individualisiert, einen wirklich einheitlichen Volksglauben in einer Volkskirche hat es zwar auch vorher nicht gegeben, aber jetzt fehlen die gesellschaftlichen Zwangsmittel dazu, so eine Volkskirchenzugehörigkeit zumindest vorgeben zu sollen oder sogar zu müssen.

Heute entscheiden die Menschen zwar nicht unbedingt frei, aber persönlich. Sie haben eine breite Auswahl: den traditionellen Christengott mit Gottesdienst und entsprechenden Ritualen, dort wieder unterteilt in aktive Gläubige und gelegentliche, dann gibt's den nicht näher definierten persönlichen Gott, sowie das unbestimmte "höhere Wesen", ferner Religionen nichtchristlicher Art, dazu die esoterischen Bereiche, dann die schlichte Areligiösität, man interessiert sich für diese Bereiche einfach nicht und letztlich sind inzwischen auch Atheisten eine wahrnehmbare gesellschaftliche Gruppe geworden.

Alle Pläne der Theologen werden diese Entwicklung nicht mehr umkehren können. Die "Verkündigung der frohen Botschaft" und die "Feier der Sakramente" bräuchten ein entsprechendes Nachfragebedürfnis. Das "Opium des Volkes" hat aber diese Nachfrage nicht mehr. Das religiöse Elend dient in Gesellschaften mit politischen Freiheiten nicht mehr als "Ausdruck des wirklichen Elendes" und dem Protest dagegen, Religion ist nicht mehr "der Seufzer der bedrängten Kreatur", Religion ist nicht mehr "das Gemüt einer herzlosen Welt" und nicht mehr "Geist geistloser Zustände".

Die Menschen haben zwar ihre Ketten noch nicht verloren und auch keine Welt gewonnen, aber sie haben in der heutigen Welt die Möglichkeit, Besseres zu finden als die alten Religionen mit ihren einfältigen Lehren. Für die traditionellen Kirchen gibt es keine neuen Chancen, das "Dinner for one" wird weitergehen.