"Und hier noch ein weiterer Irrtum dieser christlichen Moral. Sie lehrt,
dass man seine Feinde lieben müsse, sich für erlittene Unbill nicht rächen und
noch nicht einmal den Bösen widerstehen dürfe. Im Gegenteil, wir sollen segnen,
die uns fluchen, und denen Gutes tun, die uns übelwollen, und die Kleider vom
Leibe reißen lassen, wenn man uns das nehmen will, was wir besitzen, und immer
sollen wir still und friedlich Beleidigungen und Misshandlungen, die man uns
antut, ertragen usw. Auch dies ist, so sage ich Euch, ein Irrtum, derlei Dinge
zu lehren und von solchen moralischen Grundsätzen, die dem Recht der Natur und
dem gesunden Menschenverstand so sehr zuwiderlaufen und einem guten und gerechten
Zusammenleben der Menschen so sehr widersprechen, zu erwarten, dass sie befolgt
und beachtet werden. Sind doch diese Grundsätze all dem, was ich gerade ausgeführt
habe, völlig entgegengesetzt, denn es ist ganz offensichtlich ein Naturrecht
und dem gesunden Menschenverstand, der Gerechtigkeit und der natürlichen Gleichheit
gemäß, sein Leben und seine Güter gegen jene zu verteidigen, die sie uns zu
Unrecht wegnehmen wollen.
Die erwähnten Grundsätze der christlichen Moral
widersprechen nun allen diesen Naturrechten aufs schärfste, infolgedessen ist
es ein Irrtum, sie zu lehren und beachtet wissen zu wollen, da sie ja allen
Naturrechten entgegengesetzt sind und offensichtlich zu Zerrüttung der Gerechtigkeit,
der Unterdrückung der Armen und Schwachen führen und dem guten Zusammenleben
der Menschen entgegenstehen. Ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, dass
eben aus diesem Grund der Kaiser Julian, genannt Apostata, das Christentum verließ,
weil er nicht glauben konnte, dass eine Religion, deren moralische Vorschriften
und Grundsätze auf die Zerrüttung der Gerechtigkeit und der natürlichen Gleichheit
hinzielten, wahr und wirklich göttlichen Ursprungs sei.
Nun führen diese Grundsätze der christlichen Religion nicht allein die Zerstörung
der Gerechtigkeit herbei, sondern bezwecken ganz offensichtlich eine Begünstigung
der Schlechten und die Unterdrückung der Guten und Schwachen durch eben jene.
Denn bedeutet es einerseits nicht ganz offensichtlich, die Schlechten in Vorteil
zu bringen, wenn man sagt, dass wir uns nicht wehren dürfen gegen die Zumutungen
und die Misshandlungen, die sie uns widerrechtlich antun? Heißt es etwa nicht,
sie zu begünstigen, wenn man uns empfiehlt, ihnen keinen Widerstand zu leisten
und alles geschehen zu lassen? Und sich sogar die Kleider noch vom Leibe reißen
zu lassen, wenn sie uns rauben wollen, was wir besitzen? Ist es denn etwa kein
Vorteil für sie, wenn man uns sagt, wir sollten sie lieben und ihnen Gutes tun
für all das Schlechte, was sie uns angetan haben?
Das heißt doch gewiss,
sie allzu sehr zu begünstigen, sie in ihrer Bosheit und ihren Missetaten zu
bestärken, heißt sie zu ermuntern, die Guten und Schwachen dreist anzugreifen
und ungestraft und furchtlos alles zu tun, was sie wollen. Werden dadurch andererseits
etwa nicht die anständigen Leute, die Guten und die Schwachen den Beleidigungen,
Beschimpfungen und Misshandlungen der Schlechten ausgesetzt, die nichts Besseres
zu tun haben, als sich auf diese schönen Grundsätze zu berufen, um noch ungehinderter
und dreister die Gerechten, die anständigen Leute und die Schwachen zu verletzen
und anzugreifen, immer unter dem Vorwand, dass jene es nicht wagen, es ihnen
zu vergelten, oder es gar nicht wollen, ja sich noch nicht einmal gebührend
gegen sie zur Wehr setzen wollen?
Gewiss werden sie dadurch den Beleidigungen
und Beschimpfungen der Schlechten ausgesetzt, ja es heißt in gewisser Weise
zu verlangen, dass die Guten sich selbst den Schlechten und ihren Feinden als
Beute überlassen. Denn die braven und anständigen Leute können diese Grundsätze
nicht befolgen und beachten, ohne die Schlechten ungehindert alles machen zu
lassen, was sie nur wünschen oder wollen könnten; den anständigen Leuten zu
sagen, sie sollten diese Grundsätze befolgen, ist dasselbe, wie wenn man ihnen
sagte, sie sollten die Schlechten gewähren lassen und sich selbst, ihre Person
und ihre Habe, ihnen als Beute hingeben; was ganz offensichtlich den Umsturz
jeglicher Ordnung und Gerechtigkeit herbeiführt, und folglich sind diese Grundsätze
eindeutig falsch und dem wirklichen Wohl der Allgemeinheit abträglich."
Aus:
Das Testament des Abbé Meslier. Die Grundschrift der modernen Religionskritik,
herausgegeben von Hartmut Krauss, Osnabrück 2005, Seite 238f.
Wikipedia:
Jean Meslier (* 15. Juni 1664 in Mazerny; † 17. Juni 1729 in Étrépigny) war
ein französischer katholischer Priester im Zeitalter der Aufklärung, der (..)
von einem konsequent materialistischen, atheistischen Standpunkt aus eine radikale
Kirchen- und Religionskritik schrieb. Sein zu Lebzeiten nicht veröffentlichtes
Manuskript zirkulierte im Verborgenen und übte so einen starken Einfluss auf
die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts aus. Eine ungekürzte Buchausgabe
seines Testaments erschien erstmals 1864 in Amsterdam.