Säkularität und Esoterik

Ein Bericht des Kölner Deutschlandfunks (16.7.2011) befasste sich mit dem Verhältnis der deutschen Bevölkerung zur Esoterik. Demnach lassen sich mehr als die Hälfte der Leute von esoterischen Vorstellungen beeinflussen. Das geht von "ganzheitlichen Heilverfahren" - wie dem aus Japan stammende Reiki und der Bachblütentherapie - bis zum Stand der Gestirne, also vom Mond bis zu den Sternzeichen.
Der Verein Sekteninfo Nordrhein-Westfalen teilte dazu die Esoterik in drei Gebiete: Zukunftsvorhersagen, Lebenshilfe und Wunderheilung. Eine Psychologin meinte, die Kirchen könnten die Bedürfnisse vieler Menschen nach Spiritualität nicht mehr erfüllen, Esoterik erscheine spektakulärer und sei konsumorientiert. Kirchen seien fordernder, Esoterik komme eher dem Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung entgegen.

Als Atheist wird man Esoterik ebenfalls dem Religionsbereich zuordnen. Wobei man allerdings beachten muss, dass auch Esoterik ein Faktor der Überwindung religiöser Herrschaft ist. In Europa herrschte physisch und psychisch jahrhundertelang die römisch-katholische Kirche, es herrschten in unseren Breiten Zustände, die noch schlimmer waren als die heutigen Verhältnisse in militanten islamistischen Gottesstaaten wie Saudi-Arabien oder dem Iran. Die Reformation brach das Monopol der katholischen Kirche, die Gegenreformation konnte die vorher herrschenden furchtbaren Zustände auch nicht auf Dauer wiederherstellen, denn die Aufklärung veränderte diese Verhältnisse: Die menschlichen Kenntnisse nahmen zu, der Feudalismus als Grundlage des finsteren Mittelalters wich Schritt für Schritt dem Kapitalismus, die Geldwirtschaft ersetzte feudale Knechtung und feudale Fronarbeit durch kapitalistische Ausbeutung. Leibeigenschaft und religiöser Zwang wurden obsolet.

Die Überwindung des religiösen Druckes in Europa führte auch zum Nachlassen dessen, was Karl Marx "Opium des Volkes" genannt hatte, der Niedergang der religiösen Herrschaft, reduzierte auch die Funktion der Religion als Stütze. In den USA, wo seit Anbeginn der Staatsbildung Religionsfreiheit herrschte, blieb diese quasi esoterische Funktion der Religion weitaus besser erhalten als in Europa. Wenn es keinen durchorganisierten Sozialstaat gibt und jeder sich selbst der Nächste zu sein hat, dann wird "Gottes" Hilfe öfter benötigt.

Aber die Esoterik bleibt auch im aufgeklärten säkularen Europa erhalten. Die Esoterik ist die Fortsetzung der alten Religion der Naturgeister. Ich frage die Geister: ich fürchte mich vor der Zukunft, sagt mir, was wird morgen sein? Ich frage die Geister: was soll ich in unangenehmen Lagen tun? Ich frage die Geister: die Ärzte können mir nicht helfen, könnt Ihr mir helfen?

Es ist nachvollziehbar, dass schwache Menschen in misslichen Lagen auf eine stärkere Macht hoffen. Selber sind sie nicht Old Shatterhand oder Superman, selber fühlen sie sich ohnmächtig. Eine ausgleichende Allmacht wäre daher willkommen. Bereitwillig wendet man sich Dingen zu, die den Eindruck erwecken, eine Lösung, eine Erlösung bringen zu können. Sie bringen zwar bestenfalls Placebo-Effekte, aber eine aufnahmebereite Psyche findet vielleicht dadurch tatsächlich aus depressiven Situationen hinaus.

Davon lebt der Esoterik-Bum im Säkularismus. Der Jesus hat davon nichts, auf diesem Geschäftsfeld bieten die christlichen Kirchen zuwenig an. Was sollen sie auch? Das Verzehren des göttlichen Jesusleibes bei der Kommunion hat weniger Wirkung als hochverdünnte homöopathische Tinkturen.

Die Esoterik ist die Wiedergeburt des Medizinmannes, die zeitgestylte Wiederkehr alten Aberglaubens. Wer sich selber nicht mehr helfen kann oder auch bloß glaubt, es selbst nicht zu schaffen, braucht helfende Mächte. Unsere Psyche wird in objektiven und subjektiven Notlagen psychotisch. Weil: vielleicht hilft's?!