(ergänzt am 25.7.)
Als am 22. Juli 2011 in Norwegen ein Sprengstoffanschlag im Regierungsviertel
und ein Massenmord mit Schusswaffen in einem sozialdemokratischen Jugendlager
auf einer Insel passierten, war anfangs die allgemeine Meinung der Medien: Al
Kaida hat wieder zugeschlagen. Danach wurde gemeldet, es handle sich um einen ausländerfeindlichen
Rechtsextremisten, schließlich teilte die norwegische
Polizei am 23.7. mit, Internet-Einträge des Verdächtigen offenbarten
einen "christlichen Fundamentalismus". Die Zahl der Todesopfer
stieg bis zum 24.7. auf 93 (am 25.7. wurde die Zahl auf 76 berichtigt). Vergleichbar könnten die Untaten
mit dem Bombenanschlag von 1995 in der US-Stadt Oklahoma sein, wo 168 Menschen
ums Leben kamen, der dortige Sprengstoffattentäter Timothy McVeigh wurde danach
zum Tode verurteilt und 2001 hingerichtet.
Der Verdächtige
heißt Anders Behring Breivik und auf seiner Facebook-Seite
beschreibe er sich als "konservativ" und "christlich". Er
sei der Leiter eines Bio-Bauernhofs, Junggeselle und interessiere sich für die
Jagd sowie für Computer-Kriegsspiele wie "World of Warcraft".
Internetbotschaft:
"Eine Person mit einem Glauben ist der Kraft von 100.000 gleich, welche
nur Interessen haben" - Breivik hält sich für einen glaubensstarken
Auserwählten.
Der
Tatverdächtige repräsentiert die Seite der Gegnerschaft zum Islam, die nicht
religionskritisch bedingt ist, sondern kulturell-religiös. HC Strache und Österreichs
FPÖ haben 2009 den EU-Wahlkampf mit den Slogan "Abendland in Christenhand"
geführt. Es ist vermutlich nicht an den Haaren herbeigezogen, zu äußern, die
Anschläge des norwegischen Tatverdächtigen wären aus derselben Grundmotivation
geformt. Verteidigung des christlichen Europas gegen eine Religion, gegen die
schon die Kreuzritter ("Crusaders" siehe Warcraft-Bild oben) durch die Länder
gezogen waren.
Am 24. und 25. Juli gab es weitere Infos über Anders Breivik.
Demnach ließ er sich vor 15 Jahren evangelisch taufen, war aber mit dieser religiösen
Richtung nicht zufrieden und trat für eine Rückkehr zum Katholizismus ein. Aus
seinem Manifest: "Die protestantisch-liberale Kirche verteidigt und fördert
die Ordination von Frauen, Scheidung, Abtreibung, die massenweise Verbreitung
von Kontrazeptiva und trägt zur Verherrlichung der Homosexualität bei (einschließlich
der Ordination von Homosexuellen). Wenn die Kirche einem minimalistische Einkaufszentrum
ähnelt, die weiblichen Priester Jeans tragen, Abtreibung und die massenhafte
Verbreitung von Kontrazeptiva verteidigen, den Jihad gegen die Israelis verteidigen
und ein sexuell aktiven Lebens leben, was ist dann der Punkt? Wir müssen zurück
zu unseren katholischen Wurzeln. Wir, die protestantischen Nationen Europas,
sollten nicht vergessen, dass wir alle einmal Katholiken waren."
Noch
ein
kurzer religionsbezüglicher Auszug aus dem 1518 Seiten langen Manifest des
Attentäters: "Eine Mehrheit der so genannten Agnostiker und Atheisten in Europa sind
kulturelle konservative Christen, ohne es selbst zu wissen. Was also ist der
Unterschied zwischen kulturellen Christen und religiösen Christen? Wenn man eine
persönliche Beziehung zu Jesus Christus und Gott hat, dann ist man ein
religiöser Christ. Ich und viele andere wie ich haben nicht notwendigerweise
eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus und Gott. Wir glauben aber an das
Christentum als kulturelle, soziale und moralische Plattform. Das macht uns zu
Christen."
Europa müsse sich mittels einer bewaffneten Revolution von
Marxisten, Migranten und Multikulturalisten befreien, dazu müssten militärische Zellen nach dem Vorbild der "Tempelritter" gebildet werden.
Zur Erklärung: Die Tempelritter wurden um 1118 gegründet und waren ein geistlicher Ritterorden, der sich
während der Kreuzzüge zu einer
militärischen Eliteeinheit entwickelte.
Der Orden unterstand direkt dem Papst, geriet aber als übernationale Militärmacht in
Widerspruch zu den damaligen Mächten und wurde 1312 aufgelöst.
Gewalttätige abendländische Kreuzügler und muslimische
Selbstmordattentäter haben dieselben schmerzhaften Denkhintergründe, sie sind
verschiedene Seiten derselben Medaille. Nämlich Religion und Weltanschauung über
die Menschen zu stellen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass "abendländische"
Attentäter keine Massenerscheinung im Al-Kaida-Ausmaß sind.
Religionsfreiheit bedeutet nicht
nur die freie Wahl zwischen den Religionen, sondern vor allem die Freiheit von
jedweder Religion. In Europa hat es die Aufklärung geschafft, die religiöse
Allmacht der katholischen Kirche zu beschneiden, zu verkürzen, ja sie in manchen
Bereichen zu beseitigen. Der Säkularismus schreitet immer noch weiter fort.
In Europa
nun die Ansiedelung einer nahöstlichen Religion, die in ihrem Kernbereich noch nicht einmal in der
Nähe der europäischen Grund- und Freiheitsrechte angelangt ist, kritiklos geschehen
zu lassen, ist genauso unverantwortlich, wie wenn man dem Papst und seinen Gefolgsleuten
kritiklos und fügsam Narrenfreiheit gäbe und Inquisition, Gegenreformation,
Vormodernismus und Klerikalfaschismus lediglich
als historische Denkvarianten sähe.
Religionsfreiheit ist nicht nur ein
Recht, es ist auch ein Ziel, das sich aus der Logik der europäischen Aufklärung
ergeben hat. Religionsfreie stellen niemanden auf den Scheiterhaufen, schießen
niemand nieder und sprengen niemand in die Luft, aber sie vertreten ihre Interessen.
Auch gegen Leute, die statt Interessen einen Glauben haben.
Attentäter aus allen Religionen spielen dieselbe
Rolle: die Rolle des Terrors gegen weltanschauliche und religiöse Freiheit.