Arabischer Frühling oder Winter?

Ergänzt am 29.10.2011

In etlichen arabischen Staaten brachen 2011 Volksaufstände los. In Tunesien, Ägypten und Libyen wurden die bisherigen Herrscher vertrieben bzw. umgebracht. Der erste Anschein dieser Volksbewegungen gab große Hoffnung. Es schienen junge gebildete Leute führend dahinter zu stehen, die mit dem Einsatz moderner Technik die Widerstandsaktionen organisierten.

In den arabischen Autokratien spielte die Religion keine führende Rolle, die religiösen Einrichtungen hatten sich auch dem Diktat der Herrscher unterzuordnen. Diese waren allerdings vorsichtig genug, sich nicht direkt gegen die Religion zu stellen, sie wiesen ihr nur ihren Platz zu, religiöse Extremisten hatten keinen Spielraum.

Im Iran regierte von 1941 bis zu seinem Sturz im Februar 1979 Schah Reza Pahlavi. In den 1960er-Jahren versuchte der Schah durch die sogenannte "weiße Revolution" das Land auf einen modernistischen Kurs zu bringen, die Feudalherrn und die muslimische Geistlichkeit waren Verlierer dieser Veränderungen, aber auch die Masse des Volkes profitierte nur in einem eingeschränkten Ausmaß. Ayatollah Chomeini sah die Vorhaben des Schah als gegen Gott gerichtet.
Konkret umfasste das Reformprogramm sechs Punkte:
1. Abschaffung des Feudalsystems und Verteilung des Ackerlandes von Großgrundbesitzern an Bauern
2. Verstaatlichung aller Wälder und Weideflächen
3. Privatisierung staatlicher Industrieunternehmen zur Finanzierung der Entschädigungszahlungen an die Großgrundbesitzer
4. Gewinnbeteiligung für Arbeiter und Angestellte von Unternehmen
5. Allgemeines aktives und passives Wahlrecht für Frauen
6. Bekämpfung des Analphabetentums durch den Aufbau eines Hilfslehrerkorps (Armee des Wissens)

Der Versuch einen westlich-modernen Iran zu gestalten. stieß sowohl auf den Widerstand der Reaktion als auch auf den Widerstand der Linken (kommunistische Tudeh-Partei und die Volksmudschahidin). Den einen waren die Reformen zu westlich, den anderen zuwenig weitgehend. Als der Schah tatsächlich gestürzt worden war, wurden die Linken sehr schnell an den Rand gedrängt und schließlich ausgeschaltet, es erfolgte kein Schritt in eine demokratische Zukunft, sondern ein Rückschritt in die Vergangenheit, in einen islamistischen Staat.

Zurzeit sind die arabischen Staaten ebenfalls auf diesem Scheidepunkt: Aufbruch in die Moderne oder weit zurück in eine vormoderne Vergangenheit. Die zweite Möglichkeit zeichnet sich nun deutlich ab. In Libyen hat man sich bereits festgelegt, dass der Nachfolgestaat des Gaddafi-Systems auf der Scharia, der Gesetzgebung nach dem Koran beruhen wird. "Jedes Gesetz, das den Prinzipien des islamischen Rechts zuwiderläuft, ist ungültig", sagte der Präsident des Übergangsrats Mustafa Abd al-Dschalil.

In Tunesien zeichnet sich ein deutlicher Wahlsieg der Islamisten ab, die sich allerdings als moderat zu geben trachten. Das hatten die iranischen Mullahs vorerst auch gemacht. Die Masse der arabischen Bevölkerung hat - wenn überhaupt - eine einfache Schulbildung hinter sich, die gebildete Schicht ist in allen arabischen Staaten gering, denn Bildung ist kein islamischer Wert, es genügte durch Jahrhunderte, den Koran zu kennen, weil nach islamischen Verständnis dieses "Gotteswort" alles beinhaltet, was der Mensch braucht.

so sieht der Cartoonist Haitzinger in den OÖN vom 25.10.2011 die Situation

Wir sollten uns also über den arabischen Frühling keine großen Hoffnungen machen. Die Chance, dass in diesen Ländern jetzt moderne Zeiten anbrechen, ist nicht sehr hoch, es spricht mehr dafür, dass der Vormodernismus die Macht erlangt. Die europäische Blindheit gegenüber der islamischen Ideologie trägt ihren Teil dazu bei. Selbst die deklarierte europäische Linke hat trotz des furchtbaren Desasters, das die Linke im Iran erlitten hat, nicht begriffen, dass der Islam keine Ideologie ist, der man mit freundlich geblähten Nasenlöchern gegenüberstehen darf.

Der algerischen Schriftsteller Boualem Sansal, Träger des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels äußerte sich in einem Interview mit der NZZ über den arabischen Frühling so: "Der arabische Frühling hat noch gar nicht begonnen. Das wahre Gefängnis ist nicht die Diktatur. Die Diktatur ist nur die erste Mauer, aber dahinter befindet sich das echte Gefängnis, sozusagen der Hochsicherheitstrakt, das sind die Kultur und die Frage des Islam. Diese Probleme wurden noch nicht angegangen, und darum sage ich, der arabische Frühling hat noch nicht wirklich begonnen." Aber Sansal ist politisch völlig unkorrekt: "Der Islamismus ist für mich das ultimative Böse. Die Islamisten geben vor, im Namen Gottes zu sprechen, aber tatsächlich hört man Satan. Aber viele Menschen glauben, sich durch den Islamismus befreien zu können."

Ergänzung vom 29.10.2011

Das Endresultat der tunesischen Wahlen:
90 Sitze (41,5 %) an die Ennahda (islamistisch)
30 Sitze (13,8 %) an den Kongress für die Republik (säkular, sozialliberal)
21 Sitze (9,7 %) an das Ettakatol (säkular, sozialdemokratisch)
19 Sitze (8,8 %) an die Volkspetition (Anhänger des alten Regimes)
17 Sitze (7,8 %) an die Demokratische Fortschrittspartei (legale Oppositionspartei im alten Regime)
5 Sitze (2,3 %) an den Demokratischen Modernistischen Block (links, säkular)
5 Sitze (2,3 %) an Die Initiative (ähnlich wie Volkspetition)
4 Sitze (1,8 %) an Afek Tounes (säkular, liberal)
3 Sitze (1,4 %) an die Kommunistische Arbeiterpartei
23 Sitze (10,6 %) an 17 kleinere Parteien
Insgesamt sind 217 Mandate vergeben worden, 109 Sitze bedeuten die Mehrheit. Die Islamisten brauchen also nur 19 Stimmen von den anderen 25 Parteien.