Offener Brief eines Humanisten

Sehr geehrter Herr Deutsch!
Sehr geehrter Herr Dr. Sanac!
Sehr geehrter Herr Dr. Muzicant!
Sehr geehrter Herr BM Dr. Stöger!

Ich beziehe mich im folgenden auf die öffentliche Ankündigung der Israelitischen Kultusgemeinde, man werde "gegen jeden, der Beschneidungen verbieten will, vorgehen - wenn nötig auch mit Anzeigen wegen Wiederbetätigung oder Gesetzesbruch". (Krone.at)

Dazu möchte ich einleitend klarstellen, dass ich tatsächlich zu jenen humanistisch gebildeten Österreichern gehöre, die "Beschneidungen verbieten wollen". Der Grund dafür findet sich in den drei modernen, globalen Diskursen: es werden weltweit die Technik hinterfragt, das Geld und Gott. Das lässt sich z.B. an den Debatten über Klimawandel, Atomkraft und Datenschutz, an den Protesten gegen die Herrschaft der Finanzsysteme, am Aufblühen des Atheismus und an den großen Hoffnungen in den Arabischen Frühling ablesen.

Im Grunde beobachten wir dabei, wie die lange Tradition der kritischen Vernunft zur gemeinsamen Basis für alle wird, unabhängig von allen Unterschieden zwischen den Menschen. Diese kritische Vernunft will nicht Technik, Geld und Gott abschaffen. Sondern sie hinterfragt präzise, was wir mithilfe von Technik, Geld und Gott alles schaffen - und ruinieren. Und sie bedient sich dabei 2600 Jahre alter Methoden, die bis heute unaufhörlich verfeinert wurden - der Methoden des geschulten Verstandes.

Gerade auch die Republik Österreich beruht glücklicherweise auf dem verstandesorientierten Prinzip der Volkssouveränität: einzig das Volk in seiner Gesamtheit steht über der Verfassung. Das hat zur Folge, dass hier niemand neben oder über dem Gesetz steht, weswegen z.B. Steinigung, Polygamie und Sklaverei vom österr. Strafgesetzbuch unter Strafe gestellt werden, auch wenn sie aus religiöser Tradition erlaubt oder sogar vorgeschrieben sein mögen. Zusätzlich hat dieser Staat seinem eigenen Bildungssystem das vernünftige Ziel gesetzt, jeden Menschen in diesem Land möglichst zu befähigen, sich durch kritisches Denken seine eigenen Meinungen zu bilden - damit er überhaupt an den demokratischen Prozessen teilnehmen kann.

Soweit wir aktuell feststellen können, wird nun den Menschen in diesem Land in ihrer langen katholischen Tradition mehr und mehr bewusst (zum Teil auch von außen angestoßen), dass hier nicht mehr alles vom lieben Gott ausgeht; von jenem nationalen Gott, den Israeliten und Juden in der Welt verankert haben, den der Jude Jesus und der Jude Paulus zum Gott der Christen geformt haben, und den Mohammed zu Allah gemacht hat.

Bei der Frage der Beschneidung geht es also konkret darum, ob in Österreich jemand mit der Berufung auf einen Gott über dem Gesetz steht, und zwar nicht über dem mosaischen Gesetz, sondern über dem Gesetz, das vom österreichischen Volk ausgeht (z.B. zur Körperverletzung). Und das ist keine "aufgesetzte Debatte", wie Sie es nennen, und das ist auch kein Versuch, religiöse Menschen aus diesem Land zu vertreiben. Das ist auch kein Antisemitismus. Sondern das ist der vernünftige Diskurs über die fundamentale Frage, ob in Österreich ein Gott regiert - oder der Verstand.

Deshalb haben sich die (monotheistischen) Religionsgemeinschaften in Österreich zu dieser Frage ja auch sofort solidarisiert, obwohl die Beschneidungsfrage die Christen schon von den Juden getrennt hat, als es noch nicht einmal die Evangelien gab. Immerhin geht es bei diesem Thema um die Macht in diesem Land. Wird die Macht in der real gelebten, österr. Zukunft weiterhin von einem Gott ausgehen, oder doch allmählich vom Volk?

Wir Humanisten begrüßen es, dass dieser Diskurs möglichst öffentlich und möglichst breit geführt wird. Aus unserer Sicht sollen Technik, Geld und/oder Gott für niemanden mehr eine Ausrede sein, sich aus seiner persönlichen Verantwortung als vernünftiger Mensch zu stehlen. Uns ist dabei auch vollkommen bewusst, dass sich dadurch religiösen Menschen erneut die Frage ihrer Zurechnungsfähigkeit in einer Demokratie stellt. Denn wer in einem demokratischen Rechtsstaat die Verantwortung für sein Tun von sich persönlich wegschiebt, sei es auf Götter, Traditionen oder innere Stimmen hin, der kann hier tatsächlich nicht mit erwachsenen, selbstverantwortlichen, humanistisch geprägten Menschen zusammenleben. Dieser Herausforderung müssen sich aber alle Gottgläubigen in Österreich stellen, nicht nur Juden und Muslime.

Konkret betrachten wir Humanisten die Beschneidung also selbstverständlich als eine Körperverletzung, die der Wille des österr. Gesetzgebers im Auftrag des österr. Volkes insgesamt unter Strafe stellt. Wir stehen daher unmissverständlich dazu, dass die Beschneidung in Österreich "verboten werden" muss, weil sie schon längst verboten ist. Wir stellen uns dazu auch gern jeder Diskussion - und gern jeder Anzeige oder Klage. Aber wir vermuten, dass dieses ganze Thema das Land immer wieder beschäftigen wird, bis es zufriedenstellend für alle geklärt ist.

Mit freundlichen Grüßen, Dietmar Schoder, 1160 Wien