Humanistische Gedanken zum Neuen Jahr

von Dennis Riehle, Sprecher der Humanistische Alternative Bodensee

2014 für Substanz und Definition nutzen

Beim Zappen durch die Fernsehprogramme, die sich an Silvester in der Vielzahl der Ausstrahlung "alter Schinken" nahezu überbieten, beim hundertsten "Dinner for One" und bei der neuesten Ausgabe einer rockigen "Kultnacht", meint man, an manchen Stellen tatsächlich auch noch intellektuelle Fetzen aufschnappen zu können. Ein Jazz-Konzert, so dachte ich, und lehnte mich entspannt zurück. Doch dann: "Lasst uns beten!". Der Gottesdienst zum Altjahresabend hatte auf "modern" gemacht, ein zunehmender Trend der Kirchen, die -wie es auch in dieser Übertragung sichtbar wurde -großen Bedarf haben, mit neuen Ideen vor allem junge Mitglieder zu gewinnen und zu halten.

Und dabei bleibt auch nichts aus, was noch vor einiger Zeit unerreichbar schien: Die ökumenische Vesper, gestaltet von evangelischer Landeskirche, Katholiken und Baptisten, bekannte sogar ihren Glauben gemeinsam. Bis auf den letzten Absatz traute Zweisamkeit -und auch ansonsten ein überaus perspektivisches Programm: Hoffnung und Wohlfühlatmosphäre überall, intensiver Gesang und eine Predigt, deren Kern auch ohne Gott ankommen würde. Selbst wenn es das Problem der Kirchen ist, ihre Pfarrer nicht mehr zu Verlautbarungen nach der eigenen Lehrer animieren zu können, ereilte mich in diesem Augenblick wieder der beklemmende Moment: Was können Humanisten, Zweifelnde und Freidenker diesem zumindest dem Ausdruck nach starken Jahresausklang ihrerseits entgegen setzen? Sollen und müssen wir überhaupt eine Alternative sein? Wollen auch wir ausschweifen, um unsere "frohe Botschaft" in die Welt zu tragen? Und wenn ja, welche wäre denn das? "Es geht auch ohne Gott" -reicht das?

In den Weihnachtsansprachen der Bischöfe erklang neuerlich der Aufruf, auch 2014 wiederum zum Missionieren zu nutzen. Menschen, die in Not und ohne Aussicht auf Veränderung in Armut und Bedürftigkeit verharren, sind das Ziel der christlichen Beauftragten, die geschult, ausgebildet und voller Tatendrang nicht nur im fernen Afrika auf die Suche nach denen gehen, die offen sind für Verheißungen jeglicher Art. Manch kämpferische Atheisten fordern ihrerseits gleichsam auf, vom "Unglauben" zu überzeugen. Auch unter ihnen werden Ziele gesetzt, wie viele Kirchenmitglieder man 2014 abwerben könnte. Zwischen totaler Abgrenzung und nahezu Feindschaft bis hin zu Ablehnung von jeglichen Gesprächen untereinander, aber auch mit dem Gegenüber der Religionen, tun sich Konfessionsfreie keinen Gefallen. Uns steht es nicht gut zu Gesicht, Konzepte und Pläne zu schmieden, wie es gelingen kann, die Statistik der Kirchenaustritte und den Anteil der Konfessionslosen auch im nächsten Jahr wieder auf einen neuen Höchststand zu treiben.

Fast wie ein Wettbewerb verläuft das Ringen um eine neue Vormacht am Weltanschauungsmarkt. Sollen Humanisten und Atheisten lediglich der Staubsauger sein, der möglichst viele der "entronnenen Schäfchen" der großen und kleinen Religion auffängt? "Gegen" Gott, den Glauben, die Kirche und die Religion zu sein, das reicht nicht aus, um Menschen heute binden zu können. Gerade diejenigen, die sich enttäuscht abwenden von ihren bisherigen Überzeugungen, brauchen alternative Angebote im Denken, im Handeln und im Fühlen. Gerade mit Letzterem arbeiten die Kirchen noch immer in herausragender Weise. Nicht selten wird mir entgegen gehalten, Humanismus und Atheismus kämen "kalt" daher. Ja, sie sind rational -aber müssen sie deswegen unantastbar und unnahbar sein? Wo ist die Substanz, die wir denen schenken können, die ihren Glauben an einen Gott der Religionen, an eine Lehre der Wunder und Bevormundung, der Rückwärtsgewandtheit und der fehlenden persönlichen Ansprache für das eigene Leben verloren haben?

Nein, ich will nicht missionarisch tätig werden. Und doch brauchen wir ein gemeinsames Aushängeschild, das mindestens auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht, besser aber noch auf vielen Gemeinsamkeiten, die humanistische und atheistische, agnostische und freidenkerische Inhalte verbinden. Ich vertraue zwar auf die Vernunft, die Menschen auf den Weg von Selbstbestimmtheit bringt -denn nur sie ist in der Lage, aus Reflektion und eigenem Denken die individuelle Überzeugung zu schaffen, die vom oktroyierten Religiösen befreit. Gleichzeitig ist es uns unerlässlich, in einer Definition Anreiz zu bieten, sich einem Weltbild, das ohne Gott auskommt, anschließen zu können. In der Wirklichkeit einer barrierefreien Weltgemeinschaft kommen wir kaum um Respekt und Toleranz, um Anerkennung und Würdigung des Menschen mit all seiner Selbstverantwortung und Entscheidung für den Lebensweg, aber eben gleichsam seiner Angewiesenheit auf Emotionalität und solidarisches Geben und Nehmen umhin. Wer sind wir also als Humanisten und Atheisten, wie erklären wir uns das, was die Religionen mit unnachweisbarer Allwissenheit zu verbreiten vermögen? Und vor allem: Was sind wir bereit, dem Einzelnen als Antwort auf all das Drängende, das Fragende und das Ungewisse zu geben? Was macht es cool, den Menschen als agierendes und verantwortliches Wesen zum eigenen "Glaubens"-Schwerpunkt zu erheben?

Der Angriff auf Religion und Kirche ist hier sicherlich völlig unzureichend -ebenso wie das Ausrufen einer regelfreien Spaßgesellschaft. Humanismus und Atheismus dürfen sich aber auch nicht nur auf die Ausrede beschränken, als Weltanschauung insbesondere politisch und sozial aktiv zu sein. Natürlich ist es das wesentlichse Element eines Denkens, das sich auf den Menschen verlässt. Gemeinschaft und Miteinander sind eines unserer prägenden Angebote. Der Streit und die Debatte um Staatsformen und irdische Wege, wie unsere Welt Probleme lösen und Defizite verkleinern kann, gehört unmissverständlich auch 2014 zu einer der hervorgehobenen Aufgaben und Verantwortungen, denen wir uns konstruktiv stellen müssen. Und doch setze ich darüber hinaus noch auf mehr, wenn es um das neue Jahr geht: Die säkularen Kräfte verschwenden Unmengen an Energie für die Profilierung untereinander und für die Attacke auf einen vermeintlichen "Gegner". Doch kaum eine Partei hat bisher langfristig und überzeugend Wahlen damit gewonnen, indem sie auf die Konkurrenten eingeschlagen hat. Das sollten wir stets bedenken.

2014 bietet eine neue Chance, in mehr Vertrautheit und Einheit Säkularität zu verkörpern und mit Inhalt zu füllen, der nicht nur weltlich greifbar ist, sondern der ernsthaft Verständnis zeigt. Eine Weltanschauung, die das Bedürfnis des Menschen nach Empathie und Antwort, nach Halt und Zusammenstehen nicht berücksichtigt, ist mindestens genauso un"glaub"würdig wie eine Religion, die ihre Botschaften auf märchenhaften Geschichten aufbaut. Es braucht keine humanistische Bibel, kein atheistisches Dogma, keine freidenkerische Lehre, keine agnostische Liturgie. Und doch sind wir durchaus aufgefordert, zu blindem Ritual und kopfloser Tradition Pendants bereit zu halten. Das müssen keine pauschalen Rezepte sein, wir leben von der Freiheit der persönlichen Ausgestaltung unserer Überzeugungen. Und doch hält uns alle -ob zufrieden gottlos, ob Zweifler oder Suchender - etwas beieinander, das wir selbstbewusst, aber ohne aufdringliche Mission offerieren dürfen. Es liegt heute nicht an mir, das in Worte zu fassen, was unsere ausgestreckte Hand an die sich neu Orientierenden ausmachen sollte.

Und doch ermutige ich zum Jahreswechsel, dass wir uns durchaus bekennen können. Schließlich hatte uns dieser Silvestergottesdienst von oben tatsächlich etwas voraus. Trotz großer Überwindung und auch weiterhin bestehender, eklatanter Unterschiede gaben die Gläubigen das Bild der Geschlossenheit ab, die etwas Einladendes mit sich brachte. Im Vorfeld, aber auch während dieser Vesper war die Auseinandersetzung und die kritische Eigenbefragung spürbar -mit Inhalten, aber auch mit dem, wie man künftig Konfessionen zusammenbringen und womit man Anhänger gewinnen kann. Wenn wir uns nur ein bisschen der Anstrengungen abgucken und unsere persönlichen Antworten auf die Frage, was wir als Säkulare der Welt -ob im Kleinen oder Großen -beisteuern wollen, in einen aufrichtigen Diskurs 2014 einbringen, dann haben wir schon ausreichend Vorsätze und viel zu tun im neuen Jahr!