Nachtrag vom 6.3.: siehe ganz unten!
Bemerkenswert wie einheitlich - fast wie die seinerzeitige Sowjetpresse
- die europäischen Medien mit dem aktuellen Geschehen in der Ukraine und auf
der Halbinsel Krim umgehen. Die Ukraine habe sich von einem russenfreundlichen
Präsidenten befreit und wolle sich nun der EU zuwenden und das sei wunderbar
und müsse abstrichsfrei durchgesetzt werden.
Nun ist sicherlich ein Putin keine Lichtfigur. Aber ein bisschen was über
die russische, sowjetische und nachsowjetische Situationen sollte man dann doch
wissen.
Stalin hat in seinen Gesammelten Werken zumindest einen Text
hinterlassen, der ihm gelungen ist und auch heute als marxistisch brauchbar
gelten kann: Sein 1912 im Wiener Exil verfasster Text "Marxismus und nationale
Frage" definiert die Nation als "eine historisch entstandene stabile
Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der
Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft
der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart".
Wogegen schwer
etwas zu sagen ist: wir erleben es aktuell am steigenden Unmut der Bevölkerung
gegen die EU, weil die EU eben nur eine Wirtschaftsgemeinschaft der Banken und
Konzerne ist und keine stabile Gemeinschaft von Menschen.
Stalin hatte
als geborener Georgier persönliche Interessen, die Rolle der Nation zu beachten,
seine Nationalitätentheorie floß in den Sowjetstaat ein. Die Sowjetunion
wurde zwar zentral diktatorisch geleitet, hatte aber regional und lokal nationale
Sonderheiten. Es gab in der UdSSR ("Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken") fünfzehn Sowjetrepubliken (z.B. die Russische, die Ukrainische,
die Georgische, die Kirgisische, die Turkmenische Sowjetrepublik usw.). Dazu
gab es noch "Autonome Sowjetrepubliken" und "Autonome Gebiete".
Damit wurden die nationalen Traditionen strukturell gesichert, weil dort jeweils
die Medien und der Schulunterricht nach den jeweiligen nationalen Traditionen
eingerichtet wurden, in Usbekistan erschien die Prawda eben auf usbekisch und
nicht auf russisch, die Unterrichtssprache war usbekisch und das Fernsehprogramm
auch in der Landessprache.
Anzumerken ist zur stalinschen Nationalitätenpolitik:
Der Zerfall der Sowjetunion in eine Reihe von selbstständigen Nationalstaaten
war eine zwar unbeabsichtigte, aber zumindest mittelbare Folge von Stalins Nationstheorie,
weil eine durchgehende Zwangsassimilierung ans Russische unterblieben war.
Die Krim war seit 1783 Teil des Russischen
Reiches, seit 1921 eine autonome Sowjetrepublik innerhalb der Russischen Sowjetrepublik,
1954 wurde die Krim (wohl wegen der besseren Landverbindung auf der ukrainischen
Seite) in die Ukrainische Sowjetrepublik umgegliedert. Nach dem Untergang der
Sowjetunion und nach einigem hin und her wurde sie 1994 als "Autonome
Republik Krim" Teil der Ukraine. Bei der Volkszählung 2001 gaben 77
% russisch als Muttersprache, 11 % krimtatarisch und 10 % ukrainisch an.
In
der "Autonomen Republik Krim" hatte am 27.2.2014 das Parlament für den
25. Mai eine Volksabstimmung
über den hinkünftigen Status der Halbinsel angesetzt. Der Termin wurde inzwischen
auf den 30. März vorverlegt. Wenn sich an diesem
Tag auf demokratische Weise die Mehrheit der Wahlberechtigten der Krim für eine
Abkehr von der Ukraine ausspricht, wird das die EU zur Kenntnis nehmen müssen.
Es
würde daher wohl wesentlich angebrachter sein, sich Sorgen über den massiven
Rechtsextremismus in der Ukraine zu machen, statt über den zukünftigen Status
der Krim. Den sollte man der Entscheidung der dortigen Bevölkerung überlassen.
Und
wenn die EU ihre Bürger noch mehr gegen sich aufbringen will, dann soll sie
die 25 Milliarden Euro, welche die Ukraine zwecks Bankrottvermeidung augenblicklich
zu brauchen scheint, schnellstens dorthin überweisen. Dann können die politologischen
Wichtelmännchen nach der heurigen EU-Wahl wieder einmal kopfschüttelnd ihr Unverständnis
über das Wahlverhalten einer zunehmenden Zahl von EU-Bürger äußern.
Dass
die EU den politischen rechten Rand selber hoch füttert, wird man auch dann
nicht begreifen. Weil jeder in einem EU-Land Lebende hat gefälligst ein
begeisterter EU-Fan zu sein: Auf dass es den Banken und Konzernen weiterhin
unreguliert wohl ergehe und die arbeitende Bevölkerung wieder einmal ganz alleine
die Zeche zahlt.
Nachtrag vom 6.3.: Die Volksabstimmung über den Status
der Krim wurde nun auf den 16.3.2014 vorverlegt und es soll gleich über die
Angliederung an Russland abgestimmt werden. Die EU ist empört und vertritt
die Meinung, so eine Abstimmung verstieße gegen die ukrainische Verfassung.
Von 1921 bis 1954 gehörte die Autonome Sowjetrepublik Krim zur russischen Sowjetrepublik,
dann wurde sie an die Sowjetrepublik Ukraine weitergereicht - ohne Volksabstimmung.
Und nun sei die Bevölkerung der formal immer noch autonomen Republik Krim
nicht berechtigt, über ihren Status abzustimmen? Gilt hier die von oben
verordnete Sowjetentscheidung von 1954 unabdingbar weiter?