Kathweb: Statt "Gottesvergiftung"
heute "Gottesentzug" in der Erziehung
Religionspädagoge Langenhorst
betont gegenüber beiden "fatalen" Extremismen: Kinder brauchen
Religion
War in der Erziehung früherer
Generationen eine "Gottesvergiftung" das Problem, so hat heute eher
ein "Gottesentzug" in der Pädagogik Platz gegriffen. Auf diese
zunehmende Ausblendung von Religion in der pädagogischen Landschaft der
Postmoderne hat der Augsburger Religionspädagoge Georg Langenhorst in der
"Theologisch-praktischen Quartalschrift" (2014/4) hingewiesen. Das
vom Psychoanalytiker Tilmann Moser in seinem berühmten Buch "Gottesvergiftung"
von 1976 aufgezeigte Phänomen einer Instrumentalisierung von Religion im
Dienst einer "schwarzen Pädagogik", bei der Kinder und Jugendliche
"mit übermächtigen Gottesbildern und Moralvorstellungen"
konfrontiert wurden, sei in heutigen Erziehungskontexten hingegen kaum mehr
zu finden.
Atheistischer Anmerkung: Es hat was für
sich, der heutigen Laisser-faire-Erziehung kritisch gegenüber zu stehen,
weil diese voraussetzt, alle Kinder hätten in ihrem Verhalten entsprechende
Einsichten. Da ich selber ein Schüler war, der sich eher nicht einordnen
wollte und daher oft nur unter Druck und Zwang funktionierte, wäre ich
heute als Schüler wohl einer derjenigen, für die das Lernniveau soweit
abgesenkt werden müsste, dass es meinen Freiwilligkeitslevel nicht übersteigt,
was heißt: ich würde viel weniger lernen als ich damals lernen musste.
Aber mit dem alten Religionsunterricht hat das nichts zu tun: ich hab mich
als Kind auch nicht vor dem donnernden katholischen Gott gefürchtet, weil
ich diesen ganzen Religionsschmonzes nie geglaubt habe.
Kathweb:
Gegenüber beiden "fatalen" Extremismen
betonte Langenhorst, "dass zumindest Kinder Religion brauchen, unabhängig
davon, ob sie sich später als Erwachsene zu einer konkreten Konfession
bekennen und eine bestimmte Religion praktizieren". Heranwachsende bräuchten
Religion "gegenwartsbezogen" zum Aufbau von kindlich tragfähigen
Weltbildern und Wertvorstellungen, aber auch "zukunftsorientiert"
im Hinblick auf ihre Entwicklung zu eigenständigen, selbstverantworteten,
gebildeten Persönlichkeiten.
Atheistischer Anmerkung: Mir
war der Religionsunterricht, den ich von 1953 bis 1965 erleiden musste, weil
damals im ländlich-dörflichen Bereich die katholische Religion noch
Schicksal war, etwas zutiefst Dummes und Widerliches. Wie auf dieser Site ja
schon mehrfach geschrieben: als uns in der 1. Klasse Volksschule in der 1. Religionsstunde
die Religionstante ein großes rotes Herz ins Religionsheft zeichnen ließ,
weil wir alle den Jesus so lieben würden, dachte ich mir verdutzt: das
Weib spinnt. Und das denk ich mir dazu auch heute noch. Als tragfähiges
Weltbild ist mir Religion wahrlich nie begegnet, sondern nur als alberner Unsinn.
Kathweb:
Wer "religiös unmusikalisch"
bleibe, könne moralisch gut, sinnvoll und glücklich leben, meinte
Langenhorst; "aber welch bereichernde menschliche Dimension fehlt dabei",
wenn jemand ohne Musik oder eben ohne Religion lebe. "Auch wenn der Vergleich
von Musik und Religion seine Grenzen hat" - beides stelle eine Grunddimension
des Menschseins dar. In beidem gehe es "um Wahrnehmung, Empfindung, Ausdruck
und Gestaltung von Wirklichkeit in all ihren Facetten, ja mehr noch: um das
Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und
so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost". Die religiöse
Dimension von Situationen und Erfahrungen auszuklammern, die uns "unbedingt
angehen", hieße "den Menschen verkümmern lassen",
zitierte der Theologe Aussagen, die die deutsche katholische Kirche bei der
"Würzburger Synode" bereits in den 1970er Jahren formulierte.
Atheistischer
Anmerkung: ich bin auch unmusikalisch und singe lieber nicht, weil ich die
Noten nicht so sicher treffe. Aber ich habe trotzdem meine Musik, die ich liebe,
nämlich den klassischen Rock'n'roll, also die Musik ab Bill Haley and his
Comets. Ohne Musik zu leben, hab ich nie probiert. Ohne Religion moralisch
gut, sinnvoll und glücklich zu leben, ist jedoch wahrlich keine Kunst,
sondern eben eine sinnvolle Angelegenheit. Ein Erahnen von Möglichkeiten
ist mir dabei noch nie abgegangen, mir irgendwelchen transzendenten Quargel
einzubilden, um "Raum für Sehnsucht, Hoffnung und Trost" zu haben,
dazu müsste ich wohl als Kind in den Jahren des kindlichen Urvertrauens
entsprechend abgerichtet worden sein. Da dies nicht der Fall war und ich die
christkatholische Religion gut kenne, klammere ich die religiöse Dimension
von Situationen und Erfahrungen nicht aus, sondern diese Dimension ist mir einfach
zu albern, um damit was anderes zu tun als mich darüber zu ärgern.
Und ärgern tu ich mich heute noch darüber, weil ich vor mehr als
50 Jahren zwölf Jahre lang katholisch lügen und heucheln musste.
Kathweb:
Schulung des "Möglichkeitssinnes"
Bei
seiner Empfehlung, wie der zunehmenden religiösen Sprachlosigkeit gegenzusteuern
wäre, nimmt Langenhorst Bezug auf eine österreichische Quelle: In
der Erziehung solle ein besonderer Akzent auf die Schulung des "Möglichkeitssinnes"
gelegt werden, den Robert Musil in seinem Großwerk "Der Mann ohne
Eigenschaften" ansprach. Neben dem "Wirklichkeitssinn", also
dem Gespür für Tatsachen und Empirie, benötigt der Mensch laut
dem österreichischen Romancier die zentrale Fähigkeit, "alles,
was ebenso gut sein könnte" wie das Bestehende, "zu denken, und
das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist".
Atheistischer
Anmerkung: Die religiöse Sprachlosigkeit kommt daher, weil in den Familien
kaum noch wer die Kinder mit diesem religiösen Schmarrn indoktriniert und
ihnen dadurch bleibende psychische Schäden zufügt. Alles, was ebenso
gut sein könnte wie das Bestehende, zu denken, ist sicherlich was Sinnvolles:
aber mit Religion hat das nichts zu tun: weil Religion ist ein menschliches
Hirngespinst, mit dem die menschlichen Schwächen ausgeglichen werden sollen,
was man selber nicht bewältigt, das alles kann Gott. Und ein Gott, der
alles kann, hat mit dem Bestehenden sicherlich nichts zu tun: Gott kann nicht
"ebenso gut sein" wie das Bestehende!
Kathweb:
Langenhorst konkretisierte, was glauben
lernen im Sinne der Schulung des Möglichkeitssinns heißen könnte:
z.B. über Erzählungen, Naturbegegnungen oder Vorlesen Fantasie und
Vorstellungsvermögen entfalten oder die Kompetenzen des Ausdrucks und der
kreativen Gestaltung zu fördern. Nur über die Schulung des Möglichkeitssinns
in religiösem Sinn kann es nach den Worten des Religionspädagogen
auch gelingen, "dass Kinder die Welt als Gottes Schöpfung wahrnehmen,
dass sie sich selbst als angenommene Gotteskinder empfinden können".
Atheistischer
Anmerkung: Als Kind hab ich mit Begeisterung Karl May gelesen, das waren
sozusagen Geschichten im Möglichkeitssinn. Da May ein eifriger christlicher
Prediger war, hab ich diesen Bereich, der mit meinem Möglichkeitssinn nicht
kompatibel war, immer übersprungen. So lange Kara ben Nemsi oder Old Shatterhand
seine Feinde beschlichen oder überwältigt hat, hab ich mit May mitgemöglicht.
Wenn dann wieder das Christentum verkündet wurde, hab ich das Predigtende
gesucht und dort weitergelesen. Denn dank der familiären Erziehung hab
ich nie die Welt als Gottes Schöpfung wahrnehmen müssen, ich hab in
der Realität leben dürfen - sieht man von den zwei Stunden Religionsunterricht
jede Woche ab. Dort lebte ich unter Denk- und Sprechverbot in einer Narrenwelt.
Einen Gottesentzug musste ich nie machen, weil ich war schon als Kleinkind gegen
die Gottesvergiftung geimpft worden. Amen.