Liebe Freundinnen und Freunde,
knapp 250 Jahre sind es her, seitdem Goethe mit seinem "Werther"
eine
nie dagewesene Debatte über Suizid vom Zaum gebrochen hat und die
negative Besetzung des Begriffs "Selbstmord" endgültig und nachhaltig
infrage gestellt hat. Umso mehr scheint es erstaunlich, dass sich ein
Vierteljahrtausend später die österreichische Politik dem kirchlichen
Diktat beugt und eine ergebnisoffene Debatte über das Recht, sein Leben
selbstbestimmt zu beenden und zu diesem Zweck Hilfe zu erhalten, aktiv
verhindert.
Deutlicher konnte zudem eine wertende Aussage eines
parlamentarischen Organs - nämlich einer Enquete Kommission
- nicht ausfallen. Steht es aber einem Parlament in einer
pluralistischen Demokratie überhaupt zu, in reinen Wertedebatten eine
pro-religiöse und sachlich nicht begründbare Stellung zu beziehen und
nebenbei in das allerheiligste Recht, nämlich dem Recht auf Leben - und
somit auch auf den eigenen Tod - ideologisch einzugreifen? Wir meinen:
nein. Gewisse Entscheidungen dürfen einem Individuum nur dann abgenommen
werden, wenn sachliche und zudem genügend wichtige Argumente dafür
sprechen. Religiöse Dogmen zählen wir, sowie Goethe bereits im 18.
Jahrhundert, allerdings nicht dazu.
Aus diesem Grund führten wir den
Kampf um die Gründung von "Letzte Hilfe
- Verein für ein selbstbestimmtes Sterben" auch im Jahr 2015 fort. Nach
einem enttäuschenden - jedoch nicht ganz überraschenden - Urteil des
Verwaltungsgerichts Wien wurde der Weg zum Österreichischen
Verfassungsgerichtshof geebnet. Von dieser Möglichkeit machten wir auch
Gebrauch und brachten eine entsprechende Beschwerde
ein. Nichtdebatten, die infolge eines beschämenden Zusammenspiels
kirchlichen Diktats und kollektiver Feigheit von Volksvertretern
zustande kommen nehmen wir nämlich nicht hin - ungeachtet der
gerichtlichen Erfolgschancen. Mit einem Urteil des VfGH rechnen wir in
der ersten Jahreshälfte 2016. Das Thema "selbstbestimmter Tod in
Österreich" werden wir auf jeden Fall nach Kräften am Leben halten,
einen kleinen Erfolg können wir aber dennoch jetzt schon feiern: eine
Verschärfung der Gesetzgebung,
wie ursprünglich von der Katholischen Kirche (über ihren verlängerten
Arm, der ÖVP) geplant, scheint derzeit, zumindest realpolitisch
betrachtet, vom Tisch zu sein.
Ein weiteres Thema, das uns auch im Jahr 2015 intensiv beschäftigte,
war die in Österreich ja fast selbstverständliche (pro-)religiöse
Bevormundung von Schülern (sowie deren Eltern!) im öffentlichen
Bildungssystem. Konkret ging es diesmal um diskriminierende
Erstkommunionsvorbereitungen in einer - wenig überraschend… -
niederösterreichischen Volksschule während des Sachunterrichtes. Heuer
durften wir in diesem Zusammenhang einen besorgniserregenden Tiefpunkt
der österreichischen Rechtsprechung erleben: weder ein
Verwaltungsgericht noch der Österreichische Verfassungsgerichtshof
haben sich bequemt, eine offensichtlich legitime Beschwerde von Eltern,
die sich in ihrem Recht auf Freiheit von Religion verletzt sahen,
inhaltlich zu behandeln! Und dennoch, auch hier lässt sich ein
Lichtblick erkennen. Die von der "Initiative Religion ist Privatsache"
unterstützten Verfahren führten zu einer sehr breit geführten
öffentlichen Debatte sowie zu einer weitgehend positiven
Berichtserstattung. Sehr erfreulich war in diesem Zusammenhang auch die
Kooperation mit Freunden der Initiative, die über ihre zweckgebundene
Unterstützung die durchaus kostspieligen Beschwerden überhaupt
ermöglicht haben. Es gibt sie also doch, die laizistische Solidarität!
Es gab aber auch weitere Themen, die uns im abgelaufenen Jahr
beschäftigten. Vor dem Hintergrund der traditionell pro-religiösen
Rechtsprechung österreichischer Gerichte dürfte es wohl kaum jemanden
überrascht haben, als der Verfassungsgerichtshof bereits zu Jahresbeginn
schwarz auf weiß festhielt, dass der ORF eine Schweigeminute zum
Andenken an den Kreuztod Christi abhalten darf und sich zudem explizit -
als Einrichtung der Republik! - zum Christentum bekennen
darf. (Detail am Rande: an die Schweigeminute, die weltweit im Gedenken
an die Opfer der Anschläge von Paris abgehalten wurde, schloss sich der
ORF lediglich mit seinen Regionalradios und Ö3 an. Von den
österreichischen TV-Sendern wurde diese Schweigeminute lediglich von ATV
eingehalten. Soweit zum Stellenwert von Religion beim österreichischen
öffentlich-rechtlichen Rundfunk).
Auch heuer hatten wir es zudem mit dem
sog. "König-Abdullah-Zentrum" zu tun, dessen Fortbestand in Österreich
unter österreichischer Beteiligung und trotz der barbarischen Verfolgung
des saudischen Bloggers Raif Badawi der Intervention eines merkwürdigen
Trios, bestehend aus Außenminister Kurz, Bundespräsident Fischer und
der Katholischen Kirche, zu verdanken ist. Dass die Republik Österreich sich heuer veranlasst sah, die Moon-Sekte
gesetzlich anzuerkennen, versteht sich ja auch schon fast von selbst;
einerseits solle ja die Privilegien der Katholischen Kirche beibehalten
werden, anderseits darf aber keine Glaubensgemeinschaft benachteiligt
werden.
Anders als bisher darf bei diesem Jahresrückblick ein abschließender
Abschnitt "in eigener Sache" nicht fehlen. Mit dem Tod Prof. Heinz
Oberhummers im November verlor nämlich nicht nur die "Initiative
Religion ist Privatsache" ihren Obmann und wir einen einmaligen Freund
und Mitstreiter - vor einem Monat verstummte einer der wichtigsten
Aufklärer und Humanisten Österreichs für immer. Dieser schwere Verlust
stellt auch die Initiative vor neue Herausforderungen. Das kommende Jahr
wird daher von dem Versuch geprägt sein, die große Lücke, die Prof.
Oberhummer hinterlassen hat, zumindest teilweise zu schließen.
Ein erfolgreiches Neues Jahr wünschen
Michael Franz
- Eytan Reif
PS: Rechtsanwaltsleistungen und Gerichtsverfahren, Presseaussendungen
und -konferenzen, Veranstaltungen und selbst unsere Webpräsenz: alles
hat seinen Preis. Anders als die Kirchen und Religionsgesellschaften
Österreichs erhält die "Initiative Religion ist Privatsache" von der
öffentlichen Hand jedoch KEINEN CENT. Unsere parteipolitische
Unabhängigkeit, die nach wie vor außer Diskussion steht, lässt weitere
Finanzierungsmöglichkeiten ausscheiden. Die Aktivität der Initiative ist
daher auch von deiner Spende abhängig!