Bildung auf Zeitenhöhe

Efgani Dönmez, ehemaliger Bundesrat der Grünen, am 9.4.2016 in den OÖNachrichten.

Bildung muss auf die Höhe der Zeit gebracht werden
Bildung bedeutet lernen in allen Lebensphasen, von der Kindheit bis ins hohe Alter.
Bildung ist nicht nur Aneignung von Wissen und Informationen für einen angestrebten Beruf, welchen man in einer bestimmten Ausbildung erwirbt.

Bildung bedeutet auch, nicht nur zu erfahren, was wichtig und was weniger wichtig ist, sondern befähigt zum Handeln in neuen Lebenssituationen. Bildung als dynamischer Entwicklungsprozess hat innovativen Charakter und befähigt zu einer aktiveren Beteiligung am Geschehen, sei es in der Arbeitswelt, im Gemeindeleben oder bei politischem sowie sozialem Engagement. Eine Lernkultur des 21. Jahrhunderts muss neben Wissensvermittlung für den Arbeitsmarkt auch soziale Erfahrung und vor allem bewusstseinsbildende Identitätsfindung ermöglichen. Kinder und Jugendliche müssen lernen, dass sogenannte Soft Skills wie soziale Kompetenz genauso wichtig sind wie die Produktion von wirtschaftlichen Gütern oder der sorgsame Umgang mit Finanzkapital.

Eine moderne Schule des 21. Jahrhunderts muss als oberstes Ziel das "Leben lernen" haben. Die Individualität gehört in den Mittelpunkt gerückt. Dies bedeutet, Freiräume für selbstständiges Arbeiten zu forcieren. Der schulische Bildungsauftrag darf sich nicht nur auf die Vermittlung der Kulturtechniken Lesen, Rechnen und Schreiben beschränken. Mehr Eigeninitiative und Selbstständigkeit für Lernende müssen als Forderung der Stunde betrachtet werden. Die erbrachte Leistung muss überprüfbar sein, aber die Prüfung sollte keinen Sanktionscharakter haben.

Aus Fehlern können wir nur lernen, wenn wir sie auch machen dürfen. Lernen muss im Kontext mit der Lebenswirklichkeit geschehen. In Form von Projektarbeiten, freiwilligem sozialen Engagement, Schulunterricht in Verbindung mit Teilzeitarbeit, wenn Schüler in die Berufswelt wechseln sollen. Menschen lernen dann am besten, wenn sie der Überzeugung sind, dass es wichtig ist und dass es etwas bringt. Lehrende der Zukunft sind Partner, die beraten, motivieren, aktivieren und helfend eingreifen. Unser Bildungssystem steht vor einem Paradigmenwechsel von der reinen Wissensvermittlung zur lebensgestaltenden Kompetenzvermittlung. Das Bildungsziel des 21. Jahrhunderts wird mehr denn je geprägt sein von Eigenständigkeit, Selbstbestimmung, Handlungs- und Kritikfähigkeit sowie Empathie und Verantwortungsbereitschaft. Wie in vielen anderen Lebensbereichen sollte auf dem Gebiet der Bildung ein ausgewogener Weg gewählt werden, auf dem sich jeder Lernende seinen Begabungen und Interessen entsprechend einordnen kann. Eine vernünftige Kombination von Forderung und Förderung würde unseren Kindern und Jugendlichen eine gute Grundlage für Zukunftschancen in einer schwierigen Zeit geben.

Atheistische Anmerkung: Aus meiner Lebenserfahrung muss ich sagen, dass auch in der Schule ein gewisser Zwang notwendig ist. In meiner Schulzeit hat es für mich viele Interessen gegeben, die in der Schule keine Rolle spielten, andererseits viel Unterrichtsstoff, der mir von Herzen egal war. In meiner achtjährigen Mittelschulzeit spielte oft die drohende Strafe des sonstigen schulischen Untergangs die alleinige Motivation zur Wissensaneignung. Ein besonders treffliches Beispiel ist dazu mein Mathematiklehrer, ein Choleriker, der uns viel abverlangte, aber dem ich im späteren Leben sehr dankbar war: ich hatte bei ihm aus Angst gelernt und mir zwangsweise ein gewisses Ausmaß an logischem Denken aneignen müssen, was mir heute als wichtige und hilfreiche Errungenschaft dient, weil man das - wie das Radfahren oder Schwimmen - nimmer verlernen kann, wenn man einmal darauf trainiert und konditioniert worden ist. Interessiert hatte mich das als Jugendlicher nicht, aber ich musste mich danach richten und wenn ich heute z.B. Excel benutze und ich dort noch niemals irgendwas nicht zusammengebracht habe, dann hab ich das von 1957-1965 in Mathes gelernt! Und auch meine Dialektik der Wahrnehmung sehe ich nicht nur marxistisch, sondern auch mathematisch. Und das war ursprünglich kein freiwilliges Interesse, sondern Zwang!

Und noch was: Wenn Erziehung und Bildung nur nach einer Art Freude-an-der-Sache-Prinzip erfolgen und die jungen Leute dann im Beruf in die reale Welt mit ihren keineswegs überwiegende Freude vermittelnden Strukturen und Verhältnissen treten, dann müssen sie was Wesentliches fürs Leben nachlernen...
Das hat Bert Brecht dereinsten sehr sarkastisch beschrieben: "Der Schüler lernt alles, was nötig ist, um im Leben vorwärts zu kommen. Es ist dasselbe, was nötig ist, um in der Schule vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschung von Kenntnissen, Fähigkeit, sich ungestraft zu rächen, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Bereitschaft, seinesgleichen an die Höherstehenden zu verraten usw. usw. Das Wichtigste ist doch die Menschenkenntnis. Sie wird in Form von Lehrerkenntnis erworben. Der Schüler muss die Schwächen des Lehrers erkennen und sie auszunützen verstehen, sonst wird er sich niemals dagegen wehren können, einen ganzen Rattenkönig völlig wertlosen Bildungsgutes hineingestopft zu bekommen."

So das genügt! Das alles ist offenbar nicht ganz so einfach und in sich widersprüchlich. Die Bildung auf die Höhe der Zeit zu bringen, ist wohl doch ziemlich vielschichtig.