Um die Jahreswende wandte sich Jean-Claude Juncker, Präsident der
Europäischen Kommission, im Rahmen der Flüchtlingsdebatte an die Öffentlichkeit
und warnte vor Kontrollen an den nationalen Grenzen. "Wer Schengen killt,
wird im Endeffekt den Binnenmarkt zu Grabe tragen". Auch deutsche Politiker
beklagten die nationalen Alleingänge, sahen schlimme Folgen für die
deutsche Wirtschaft und forderten Solidarität von den anderen Mitgliedern
der EU.
Juncker liegt mit seiner Einschätzung sicher richtig,
doch hier stellt sich die Frage, ob die mangelnde europäische Solidarität,
welche die deutsche Regierung jetzt so lautstark beklagt, und die in der Flüchtlingsfrage
so offensichtlich zu Tage getreten ist, wirklich nur ein aktuelles Problem darstellt,
oder ob die Ursachen für die fehlende Solidarität nicht viel tiefer
liegen.
Tatsächlich muss man einige Jahrzehnte zurückgehen.
In den 1960er und 1970er Jahren hat der "Meisterdenker" des neoliberalen
Projekts, Milton Friedman, in seiner Theorie verkündet, dass der freie
Markt für die Freiheit des Einzelnen konstituierend sei, und dass er mit
möglichst wenig Staat am besten funktioniere. Er hat allerdings dabei "übersehen",
dass sich die Marktteilnehmer sehr unterschiedlich in den Markt einbringen.
Während der genannte Gedanke für die großen Kapitalbesitzer
gewiss sehr attraktiv ist, müssen abhängig Beschäftigte und kleine
Selbstständige an einem starken Staat, der faire Beschäftigungsverhältnisse
und Mindestlöhne garantiert, interessiert sein.
Ab dem Jahr
2003 begann Kanzler Schröder unter der rotgrünen Bundesregierung mit
seinem "Reformpaket" Harz IV die Vorgaben der neoliberalen Theorie
umzusetzen. Der Spitzensteuersatz wurde gesenkt und die Sozialsysteme drastisch
heruntergefahren. Es entstand, durchaus gewollt, eine große Anzahl prekär
Beschäftigter, gezeichnet von Minijobs, befristeten Arbeitsverhältnissen,
unbezahlten Praktikumsplätzen und verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit.
In der Mittelschicht breiteten sich Unsicherheit und Abstiegsängste aus,
denn auch die besser bezahlten Jobs gerieten unter Druck. Die Löhne stagnierten
und die Aufstiegschancen schwanden.
Die Reichen wurden und werden
reicher, die Armen ärmer und zahlreicher, und die Menschen der Mittelschicht
und vor allem deren Kinder können nicht mehr sicher sein, dass sie ihren
sozialen Status halten können. Nach einer Studie des Deutschen Instituts
für Wirtschaft gehört mittlerweile dem reichsten ein Prozent der Bundesbürger
ein Drittel des deutschen Vermögens (Tagesspiegel 6.12.15). Zwar gibt es
auch in anderen europäischen Ländern ähnliche Tendenzen, aber
nirgendwo in Europa ist die Spanne zwischen Arm und Reich so extrem wie in Deutschland.
Wenn
trotzdem die deutsche Wirtschaft brummt, liegt dies vor allem daran, dass die
deutsche Exportwirtschaft aufgrund der hiesigen niedrigen Löhne und auf
dem Rücken der prekär Beschäftigten Gewinne auf Kosten der europäischen
Nachbarn einfahren kann. Dieser Boom ist nicht nur nicht zukunftsträchtig,
er unterminiert die europäische Solidarität. Inzwischen warnt schon
das Wirtschaftsforum in Davos, dem wohl niemand eine kapitalkritische Haltung
vorwerfen kann, dass die ungerechte Vermögensverteilung die Wettbewerbsfähigkeit
in Deutschland einschränken werde (Berliner Zeitung 8.9.15).
Man
sollte nicht davon ausgehen, dass sich neoliberales Gedankengut auf die Wirtschaft
beschränken ließe. Wie süßes Gift sickert es in alle Poren
der Gesellschaft und fördert einen egozentrischen Individualismus, Entsolidarisierung
und unsoziales Handeln. Es vergiftet zwischenmenschliche Beziehungen genauso
wie das politische Handeln und den Umgang in sozialen und politischen Systemen.
Warum sollten beispielsweise Menschen noch wählen gehen, wenn mehr oder
weniger alle Parteien neoliberale Politik als alternativlos darstellen? Viele
prekär Beschäftigte werden sich vermutlich diese Frage bei jeder Wahl
stellen oder gleich gar nicht wählen gehen.
Mit der Eurokrise ab
2010, die im wesentlichen eine Krise der Finanzwirtschaft und der Banken war,
weil diese sich in Spekulationen statt solider Kreditfinanzierung verausgabt
hatten, zeigte sich erneut, was in Europa unter Solidarität zu verstehen
ist. Die Banken wurden mit vielen Milliarden der Steuerzahler gerettet, und
die Bürger mussten mit ansehen wie ihre Sozialleistungen zusammengestrichen
wurden.
Stets wurde damit argumentiert, dass man die Staatsfinanzen
sanieren müsse, aber ich habe bisher noch von keinem Vertreter des IWF,
der Europäischen Zentralbank oder der politischen Elite Europas gehört,
dass man dies auch tun könne, indem man den Spitzensteuersatz, die Kapitalertragssteuer
und die Erbschaftssteuer erhöht oder eine Vermögenssteuer einführt.
Auch die sogenannte Tobin-Steuer, eine Finanztransaktionssteuer auf internationale
Devisengeschäfte wurde in Europa lange diskutiert und dann auf die lange
Bank geschoben. Stets wurden, wenn die Sanierung der Staatsfinanzen verlangt
werden, die große Mehrheit der Bürger geschröpft und die Reichen
verschont.
Als während der Eurokrise die sogenannten GIIPS-Staaten
(Griechenland, Italien, Irland, Portugal, Spanien) Schwierigkeiten bekamen,
günstige Kredite an den internationalen Kapitalmärkten aufzunehmen,
bestand die Solidarität Deutschlands, dem wirtschaftlich stärksten
Land innerhalb der Europäischen Union, darin, den betroffenen Nachbarn
die neoliberale Rosskur aufzudrücken, die Deutschland schon vollzogen hatte.
Nach Kanzlerin Merkel sei diese Politik alternativlos! Die Banker ließen
die Sektkorken knallen, die Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung
in den genannten Staaten waren verheerend: Die Arbeitslosigkeit hat sich deutlich
erhöht, in Griechenland mehr als verdoppelt. Die Jugendarbeitslosigkeit
lag im Januar 2016 in Griechenland bei 48%, in Italien bei 39%, in Irland bei
19%, in Portugal bei 30% und in Spanien bei 45%. Die Jugend Europas wird die
europäische Solidarität zu schätzen wissen.
In der
Flüchtlingskrise hat die Kanzlerin Merkel eine zwiespältige Rolle
gespielt. Während ihre großherzige Geste, ab 2015 rund eine Million
Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, zunächst allgemein begrüßt
wurde, ist inzwischen deutlich geworden, dass die Kanzlerin ihre Bürger
zu wenig in ihre Entscheidung und deren Folgen einbezogen hat. Aus der aufmunternden
Rede "Wir schaffen das" ist inzwischen die zögerliche Frage "Wie
sollen wir das schaffen?" geworden. Aber die Kanzlerin hat auch die europäischen
Nachbarn, von denen sie jetzt lautstark Solidarität einfordert, nicht in
ihre Entscheidung einbezogen. In den Jahren zuvor hat sie sich auf die Dublin-Verordnung
berufen, die besagt, dass der Staat, in den der Asylbewerber zuerst eingereist
ist, das Asylverfahren durchführen muss. Als Griechenland und Italien in
den Jahren zuvor mit vielen Flüchtlingen zu tun hatten und um europäische
Umverteilung und Solidarität baten, hat sich die deutsche Kanzlerin zurückgelehnt
und auf die genannte Verordnung verwiesen. Jetzt verlangt sie Solidarität,
die sie selbst nicht zu geben bereit war.
Wenn Solidarität in Europa
wieder eine größere Rolle spielen soll, dann müssen sich Bürger
und Politiker Europas vom neoliberalen Dogma, das solidarische Politik unterminiert,
verabschieden und eine Wirtschaftspolitik verfolgen, die allen Schichten der
Bevölkerung gerecht wird.