Das große Lutherjahr hat noch nicht einmal richtig angefangen. Und
doch sind kurz vor dem Reformationsfest die programmatischen Sprüche schon
absehbar, die wir allerorten hören werden: Luther als Befreier Homosexueller
und der Frauen aus patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, der Priester vom Zölibat;
Luther als der Revolutionär und moderne Mann, der den Abschied vom dunklen
Mittelalter einläutete und so dem dauernden Fortschritt der Neuzeit, als
Entwicklung hin zu größtmöglicher Menschlichkeit und Liberalität,
den Weg ebnete.
Wieder einmal, wie so oft schon in der Geschichte des
Protestantismus, wird man sich auf diese Weise bis zum Hexenschuss verbiegend
auf die Suche nach der heutigen Relevanz des Reformators machen: Luther ist
modern, wir sind wie ihr und bei der ganz großen aktuellen Politik als
Pfarrerstochter oder Ex-Pfarrer mittendrin dabei.
Doch mit einem solchen
PR-Ansatz hat man schon verloren, bevor noch das erste Plakat zu den Jubelfeiern
überhaupt gedruckt ist. Das, was bereits die Zeitgenossen Luthers so
beeindruckte, was ihn überzeitlich wirklich bedeutend und geschichtsweisend
machte, sind nicht jene Punkte, an denen er einfach wiedergab, was in seiner
Zeit der Political Correctness entsprach. Keinen seiner Zeitgenossen verwunderte
es etwa, dass er heftige antijüdische Reden schwang oder es schweigend
hinnahm, dass 1540 in Wittenberg zwei "Hexen" verbrannt wurden.
Diese für seine Epoche unauffälligen Selbstverständlichkeiten
sind es nun wirklich nicht, die das Volk und die Mächtigen interessierten
und Luther zu jenem Fanal haben werden lassen, welches die Geschichte Europas
nachhaltig veränderte. Vielmehr war es sein Widerstand gegen einzelne
korrupte Persönlichkeiten und Regeln, die dem Zeitgeist entsprangen und
ihn gleichzeitig bildeten: etwa die Ablasspraxis und deren Missbrauch im
Spätmittelalter durch geldgierige Kirchenfürsten. Oder Kirchenmänner,
die die Fühlung hin zu den Nöten und Sorgen ihrer Gläubigen komplett
verloren hatten, die in ihrer ganz eigenen Welt lebten, gestützt durch
eine "heilige" Allianz von Thron und Altar sowie durch mächtige
finanzielle Ressourcen.
Die große Angst der Mächtigen,
die Gläubigen könnten die ins Deutsche übersetzte Bibel einfach
selbst lesen und dazu das Predigen anfangen, ist Ausdruck dieser Missstände.
Wenn deutsche Politiker verhindern wollen, dass Menschen ihre und die öffentliche
Meinung auch auf Facebook & Co. veröffentlichen, dann ist das den Missständen,
gegen die Luther mit seiner Bibelübersetzung protestierte, gar nicht so
unähnlich.
Alles, was Luther zu Recht hart geißelte, war damals gerade absolut
"in" oder "modern". Wer da nicht mitmachen wollte und
das zu sagen wagte, musste damit rechnen, als Ketzer bezeichnet und bestraft
zu werden. "Ketzer" ist ein Ausdruck, den viele nicht mehr verstehen
und den man heute vielleicht am besten mit "Pack" übersetzt.
Der deutsche Reformator scheute dabei auch nicht vor "Hassrede" zurück:
Den Papst nannte er wiederholte Male bei seinen berühmten Tischreden "unverschämtes
Lügenmaul", "verrückten Esel" und "Sau";
ja, forderte gar dazu auf, alle seine Gegner abzustechen.
Luther verstand
sich selbst auch nicht als besonders progressiv, ganz im Gegenteil. Gegen
die modernen Fehlentwicklungen wollte er eine Rückbesinnung auf die Ursprünge,
das Fundament des Christentums schlechthin: auf Christus ("Allein Christus!")
und die Bibel ("Allein die Bibel!").
Das intransigente "Allein!"
zeigt dabei überdeutlich auf, dass er sich von allem distanzierte, was
die katholische Kirchengeschichte unter dem Druck des Zeitgeistes im Mittelalter
an Veränderungen durchgeführt hatte. Es gibt wohl keine berühmte
Persönlichkeit jener Zeit, die reaktionärer und fundamentalistischer
war als Luther.
Spannend ist, wie schnell sich der Protestantismus von dieser mehr als
konservativen Geisteshaltung verabschiedete. Statt mit dem Zeitgeist des
Papstes oder Kaisers ging man nun mit dem der deutschen Fürsten ins Bett.
In der Folge wurde die Widerständigkeit Luthers gegen seine Moderne immer
mehr zum bequemen Appeasement an die jeweils Mächtigen umgebrochen.
So
sehr, dass etwa die Gründung der "Deutschen Evangelischen Kirche"
im Jahr 1933 ganz wesentlich einen Wunsch der damals mächtig gewordenen
Nationalsozialisten erfüllte. Auf seine Weise war man eben auch zwischen
1933 und 1945 politisch korrekt und modern.
Der Kampf um Deckungsgleichheit
mit dem Zeitgeist hält bis heute an, wo fast alle bekannteren Vertreter
der evangelischen Kirche ohne mit der Wimper zu zucken dem von den großen
Medien und fast allen Politikern verordneten Islam-Appeasement das Wort reden.
Luther würde sich wohl im Grab umdrehen. Aber nicht einmal das wird den
derzeit modernen Protestanten anfechten.
Denn mit der Leugnung der Gottheit
Jesu und seiner Auferstehung sowie der angeblichen "Entmythologisierung
der Bibel" hat man selbst Luthers Grundfeste so dem Zeitgeist entsprechend
uminterpretiert, dass sie zwar massengefällige, aber nur noch leere und
inhaltslose Fassaden sind. Dabei hätten sie die letzten Bollwerke gegen
eine endgültige Annexion durch den Zeitgeist sein können.