Am 16. Februar 2017 veröffentlichte der Mufti der Glaubensgemeinschaft
ein Fatwa (religiöses Rechtsurteil) zur Stellung des Kopftuches bzw der
Verhüllung im Islam. Dieses autoritäre aber nicht bindende Fatwa erfordert
eine tiefgreifende Stellungnahme und eine dringend notwendige inner-islamische
Debatte, wie die MuslimInnen ihre Religion hier und heute verstehen. Mir
geht es dabei nicht darum, ob die muslimischen Frauen Kopftuch tragen müssen
oder nicht. Mir geht es in dieser Frage darum, wie und mit welchen Quellen wir
unsere Religiosität in der Gegenwart begründen und was den MuslimInnen
als unantastbare Wahrheit geboten wird.
In dem Fatwa der Glaubensgemeinschaft
wird das Kopftuch mit den vier Rechtsschulen des sunnitischen Islams begründet.
Dabei werden auf gegenwartsorientierte Selbstdeutungen des Korans verzichtet
und auf die Deutungen aus dem 8. und 9. Jahrhundert zurückgegriffen
und deren Deutungen als fard (absolute Pflicht) bezeichnet. Damit werden die
Meinungen der Rechtswissenschaftler und die göttlichen Aussagen auf eine
gleiche Ebene gestellt. Oder anders formuliert, es werden den Meinungen unzweifelhaft
göttliche Eingebungen zugeschrieben, obwohl der Koran sehr ausdrücklich
solche Zuschreibungen als Schirk (širk = Beigesellung) ablehnt (Koran: 9:31).
Dieses Recht stand noch nicht einmal dem Propheten zu, etwas als erlaubt oder
verboten zu erklären (Koran: 66:1).
Wenn man die Meinungen solcher
Gelehrten aus einem Kontext herausnimmt und unüberlegt in die Gegenwart
überträgt, legitimieren wir die Gewalt und Unterdrückung der
Selbstbestimmung der Menschen. Wenn wir hier als Beispiel nur einem Wissenschaftler
des 9. Jahrhunderts, der in diesem Fatwa erwähnt wird, nämlich Imam
Schāfi'ī Folge leisten, dann sollten wir seiner Meinung nach alle MuslimInnen
töten, die das Gebet nicht verrichten. Ähnlich denkt auch ein anderer
Gelehrter namens Imam Ahmad Ibn Muhammad Ibn Hanbal, der nicht nur die Tötung,
sondern auch das Foltern von nicht betenden MuslimInnen befürwortet. Nach
diesem Geist sind die Frauen sogar verpflichtet Niqab (Gesichtsschleier) zu
tragen. Dazu schreibt der IGGiÖ-Mufti: "Dazu zählt auch die Freiheit
der Minderheitenmeinung (Hanbaliten und ein Teil der Schafiiten) zu folgen,
die auch die Gesichtsbedeckung als religiös geboten (fard) erachtet".
(Siehe
dazu die HP-Meldung auf "derislam")
Dabei nimmt die IGGiÖ
überhaupt keinen Bezug darauf, welche Folgen diese Pflicht für die
Gesellschaft und die Frau selbst haben könnte.
Bemerkenswert
finde ich auch den Umgang mit den Hadithwerken von al-Buhārī oder Muslim, welche
mit gleicher hochergebener und gehorsamster Andacht vom IS oder anderen radikalen
Gruppen salbungsvoll zitiert werden. Hier geht es nicht um die Ablehnung dieser
Werke, sondern darum, mit welcher Autonomie die MuslimInnen damit umgehen! Die
blinde Kadavergehorsamkeit diesen Werken gegenüber verursacht viel Gewalt
und Verachtung. In Anbetracht dieser Fakten können solche Aussagen niemanden
mehr überzeugen, vor allem, dass alles was der IS macht, mit dem Islam
nichts zu tun hätte. Und trotzdem versuchen wir dann aber mit gleichen
unkritischen und unaufmerksamen Argumenten den Alltag der MuslimInnen zu definieren.
Eine
weitere Quelle, die in diesem Fatwa erwähnt wird, ist der Tafsir al-Qurtubī
(Koranexegese) aus dem 13. Jahrhundert, in dem Mord, Tod, Verbrennung, Verachtung
und weitere menschenfeindliche Äußerungen ihren Platz finden. Al-Qurtubī
begründet die Nichtbegrüßung der NichtmuslimInnen mit einer
Aussage des Propheten und geht sogar einen Schritt weiter und empfiehlt, dass
man Juden und Christen, denen man auf der Straße begegnet, in enge Gassen
verdrängen sollte, damit sie mit den MuslimInnen nicht auf gleicher Ebene
stehen. Darüber hinaus diskutiert al-Qurtubī, dass die Mehrheit der muslimischen
Gelehrten vor allem die Begrüßung junger Frauen verbietet, weil diese
Begrüßung ein Grund für die Verführung der Männer
sein könnte. (..). Solche menschenfeindlichen Haltungen werden sehr ausführlich
in diesem Werk vorgestellt, die bedauerlicher Weise aus einer sehr humanen Aussage
im Koran abgeleitet werden: "Und wenn ihr mit einem Gruß gegrüßt
werdet, so grüßt mit einem schöneren wieder oder erwidert ihn"
(4:86).
Obwohl der Koran die Menschen für das Schöne motiviert,
haben solche Gelehrte in der Geschichte und in der Gegenwart mit Mühe versucht
aus diesem Text menschenverachtende Rechtsnormen abzuleiten.
Noch
gefährlicher finde ich jedoch, wenn dieser Geist des 8. oder 9. Jahrhunderts
als Grundlage für das religiöse Leben der MuslimInnen in Österreich
dargestellt wird. Der Mufti, der auch den Angriffskrieg als Dschihad bezeichnet
und das Sterben in diesem Krieg als muslimische Aufgabe betrachtet, sollte seine
theologische Haltung gründlich überdenken, ob solche Befindlichkeiten,
die dadurch bei den Gläubigen erzeugt werden, dem sozialen Frieden und
der Beheimatung des Islams in Europa dienlich sind.
Die IGGiÖ
ist auch gut beraten, die Lehre der Glaubensgemeinschaft im Lichte der gegenwärtigen
Herausforderungen gründlich neu zu überdenken. Mit dem "Madhab-Geist"
(Rechtsschule) des 9. Jahrhunderts werden die MuslimInnen nie in der Lage sein,
sich den Aufgaben der Zeit zu stellen. Mit diesem Geist können sich die
MuslimInnen von ihrer isolierten Opferrolle nicht befreien.