Ministerpräsident Kretschmann ist ein engagierter und überzeugter
Christ. Wiederholt bekannte er sich zu seinem Glauben, machte seine Nähe
zu den Kirchen auch in seinem politischen Handeln deutlich, als er ihre Vertreter
zu hochrangigen Begegnungen einlud und ihre Rechte und Meinungen besonders hervorhob.
Nicht unkritisch wurden seine wohlwollenden Worte, aber auch die oftmals einseitig
wertschätzenden Gespräche mit den Konfessionen wahrgenommen, die verdeutlichten,
dass dem baden-württembergischen "Landesvater" das enge Miteinander
mit den Kirchen wichtig ist.
So wichtig, dass Religion mittlerweile
auch in den offiziellen Newsletter der Landesregierung gehört? Am 30.05.2017
titelte dieser nämlich: "Jesus moralisiert nicht" – und bezog
sich damit auf eine Bibelarbeit, die Kretschmann auf dem Evangelischen Kirchentag
angeboten hatte. Mit dem Gleichnis des Zöllners, der auf dem Maulbeerbaum
darum bat, vom Wanderprediger gesehen zu werden, mit einem Text der Gegensätze
aus dem Lukas-Evangelium, damit beschäftigte sich diese Runde – und der
Ministerpräsident zog dabei Parallelen von Zachäus zu seiner heutigen
Politik.
Recht unkritisch scheint der "grüne" Politiker
zu agieren, wenn er die ohnehin so angespannte Diskussion um die Verquickung
der öffentlichen Hand mit dem großen Kirchenevent noch dadurch anheizt,
dass nicht nur Steuergelder fließen, Grußworte von Kanzlern, Ministern
und Landeschefs gesprochen werden, sondern sich letztere auch ganz ungeniert
in die inhaltliche Arbeit einbringen – so, als gäbe es keine weltanschauliche
Neutralität für Staatsträger in diesem Land. Doch vielleicht
gibt es sie auch gar nicht. Zwar wissen wir um den Umstand, dass keine Staatskirche
zugelassen ist (Art. 140 GG). Aber bedeutet dies auch, dass sich die Politik
aus kirchlichem, aus allem religiösem Wirken heraushalten muss, dass Amtsträger
ihre Unabhängigkeit über die Glaubensfreiheit, also auch die Freiheit
der Anderen, nicht zu glauben, stellen müssen?
Das Bundesverfassungsgericht
entschied 2015: "Das Gebot staatlicher Neutralität in religiös-weltanschaulicher
Hinsicht [hat] nicht zur Konsequenz, dass aus […] allen staatlich gestalteten
Lebensbereichen das religiöse Moment verdrängt [wird]. Ein derartiges
laizistisches Verständnis dieses Gebots [ist] nicht wirklich neutral, sondern
würde eine laizistische Weltanschauung besonders betonen" (1 BvR 458/10
vom 27.10.2016). Das Gericht knüpfte damit an die Rechtsprechung aus dem
Jahr 2003 an, in der es noch klarer formuliert hat: "Die dem Staat vom
Grundgesetz auferlegte Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität
[ist] keine distanzierende, abweisende im Sinne der laizistischen Nichtidentifikation
mit Religionen und Weltanschauungen […]" (2 BvR 1436/02 vom 24. September
2003).
Der Newsletter verlinkt
auf die Seite des Staatsministeriums, auf dem der Text der Bibelarbeit abgedruckt
ist. Kretschmann erarbeitet Standpunkte, die man eigentlich in einer Predigt
vermuten würde. Es war schon irritierend zu sehen, wie SPD-Kanzlerkandidat
Schulz auf der Kanzel stand, hinter ihm die Osterkerze, um ihn herum der kirchliche
Wandbehang. Statt einer Säkularisierung scheint die Grenzziehung zwischen
dem religiösen Agieren der Glaubensgemeinschaften und der öffentlichen
Arbeit der Politik, sich unvoreingenommen um die Belange aller Menschen zu bemühen,
immer weiter zu verschwinden. Verstörend wirkt es, wenn sich Politiker
plötzlich als Priester auszugeben versuchen und letzteren die Aufgabe abnehmen,
Bibeltexte auszulegen.
Benötige ich die Metapher des Feigenbaums
aus der Bibel, um für mich den Spannungsbogen zwischen dem Verstecken ob
manch eigener Fehlbarkeit und dem selbstbewussten Zeigen der Persönlichkeit
im politischen Leben zu entdecken? Viel eher wirken die Versuche von Politikern
als hilfloses Schlüpfen aus der eigenen Rolle des zumeist nicht sonderlich
angesehenen Repräsentanten der Obrigkeit, die in den heutigen Tagen nicht
nur bei populistischen "Wutbürgern" einen immer schwächeren
Stellenwert zu haben scheint, sondern auch in der Breite darum bemüht ist,
sich als erreichbarer zu zeigen, um die kochende Volksseele zu beruhigen. Niederschwellig
auf dem Kirchentag, mit letztendlich doch flachen Interpretationen biblischer
Texte, um in einfacher Sprache zu verdeutlichen, Glaube verbinde in seiner oftmals
schwammigen Emotionalität auch unter denen, die Politik nicht mehr verstehen.
Das könnte man als Intention erkennen, wenn Kretschmann und Andere ihr
Engagement mit Freude voranbringen.
Doch wie respektlos wird es, wenn
der Presse, wenn der Bevölkerung mit einem Medium, das eigentlich dafür
gedacht ist, politische Nachrichten aus der Arbeit der Landesregierung zu verbreiten,
die Philosophie über das frühzeitliche Zollwesen näher gebracht
wird, statt an erster Stelle darüber zu berichten, was das Kabinett für
uns Wähler leistet? Zweckentfremdet man auf diesem Wege ein Instrumentarium,
das eindeutig für öffentliches Agieren gedacht ist, als Rundbrief
für Geschichten aus dem Neuen Testament? Ist es nicht ein Affront für
die, die in Baden-Württemberg nicht an Gott glauben, die nicht dem christlichen,
sondern einem anderen Glauben angehören, wenn ihnen immer wieder verdeutlicht
wird, dass es ihr Ministerpräsident ernster mit der eigenen religiösen
Überzeugung meint als mit der von vielen Anderen?
Die "hinkende
Trennung", wie Ulrich Stutz sie schon 1926 beschrieb (Die päpstliche
Diplomatie unter Leo XIII. nach den Denkwürdigkeiten des Kardinals Domenico
Ferrata, Berlin 1926, S. 54), ist bis heute geblieben. Die enorme Auslegungsmöglichkeit
des Rechtsverständnisses über den Umfang der "res mixtae",
der "gemeinsamen Angelegenheiten", die Kirche und Staat nach dem derzeit
geltenden Grundgesetz miteinander zu "bewältigen" haben, lässt
es auch Politikern weitgehend offen, inwieweit sie sich religiös engagieren
– innerhalb und außerhalb ihrer Amtsaufgaben. Die ungeschriebenen Gesetze
sind durch das gesellschaftlichen Debattieren der Neuzeit allerdings klarer.
Nicht nur DIE ZEIT forderte als ein Spiegelbild eines bürgerlichen Wunsches
am 04.10.2013: "Trennt euch!" – und man könnte einen solchen
Ruf auch dieser Tage wieder an die Politik richten. Nein, niemand will den Politikern
ihren Glauben absprechen, aber: "Warum behaltet ihr ihn denn nicht einfach
für euch?"…
Anmerkung
atheisten-info: dieses religiöse Getue unter Politikern wird zwar manchmal
seine Ursache tatsächlich in religiös verkleisterten Köpfen
haben, aber häufig ist es bloß Weltfremdheit und Opportunismus! Wenn die Kirchen Millionen
von Mitgliedern haben, dann muss Religion was Wichtiges sein und man muss sich
daher bei den Kirchenmitgliedern einschleimen! Dass diese Kirchenmitgliedschaften
weit überwiegend aus Tradition bestehen und sich Kirchenmitglieder kaum
mehr mit Religion beschäftigen, das erfassen diese Einfaltspinseln einfach
nicht!
In der BRD ist die Zahl der Kirchenmitglieder von 1990
(Eingliederung der DDR) von 72,3 Millionen bis 2015 auf 46 Millionen zurückgegangen,
das ist ein Minus von 37 %, nur noch rund 56 % gehören einer christlichen
Kirche an!
Hier eine Statistik über den katholischen Kirchbesuch
in der BRD:
Man
hat also bei den katholischen sonntäglichen Kirchengehern seit 1970 über
Zweidrittel verloren. Bei den Protestanten gehen sonntags nur etwa 3,5 % in
die Kirche. Und wer am Sonntag nicht in die Kirche geht, dem ist mit hoher Wahrscheinlichkeit
die Religion auch von Montag bis Samstag ziemlich egal! Aber das zu erfassen,
dazu reichen die politischen Gipsköpfe meistens nicht, die Menschen in
unseren Breiten sind weit überwiegend säkular ausgerichtet, aber aus
diesem Blickwinkel werden sie politisch kaum angesprochen!
In Österreich
ist das ganz ähnlich: Die Politiker haben meist den tiefen Glauben, Kirchenmitglieder
hätten einen solchen und man müsse daher vor den Kirchen auf den Knien
rutschen. Dabei verschwindet die Religion viel schneller aus den Köpfen
als die Menschen aus den Kirchenmitgliedschaften! Weil Traditionen lassen sich
auch heute noch nicht sozusagen mit einem Achselzucken abschütteln, viele
Leute meinen immer noch, es gehöre sich in Österreich, Kirchenbeiträge
zu zahlen. Der faktische Religionsschwund wird auch hier von der katholischen
Kirche genau erfasst, von 2003 bis 2015 ist der katholische Mitgliederbestand
um zehn Prozent gesunken, der Kirchenbesuch jedoch um über dreißig
Prozent, er liegt auch in Österreich (nach unüberprüfbaren kircheneigenen
Zählungen) bei elf Prozent!