Am Ende wollte Helmut Kohl nur noch ein wenig privates Glück. Fast sein
gesamtes Leben hatte er - in seinem Verständnis - in den Dienst des Landes
gestellt. Tatsächlich aber war immer Macht sein Lebensziel - er hat sie
genossen. Und er wollte Ruhm, in die Geschichte eingehen. Als Bundeskanzler
in jenen Jahren, als aus den beiden Deutschlands, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen
hatte, wieder eins wurde, ist ihm auch das gelungen - aber zumindest im Rückblick
weiß man, dass dies weniger sein persönliches Verdienst als eine
glückliche Fügung war.
Denn mitunter gehört zum Platz
in den Geschichtsbüchern nur wenig, wie das Beispiel Günter Schabowski
zeigt. Ihn machte eine Dämlichkeit zum Maueröffner; dabei wäre
diese Geschichte auch ohne seinen berühmten Zettel so oder kaum anders
abgelaufen - allerdings weniger chaotisch. Die DDR hatte im Herbst 1989 weder
die Kraft noch den Willen, nennenswert lange weiterzubestehen. Das als einer
der ersten erkannt und entschlossen genutzt zu haben, war Helmut Kohls Leistung
- nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Hingearbeitet auf diese Vereinigung
hatte er kaum, auch wenn das in Sonntagsreden immer wieder behauptet wurde.
Kohl setzte mit seinem Einzug ins Kanzleramt 1982 lediglich fort, was einst
von Willy Brandt und Egon Bahr konzipiert worden war: die Politik des Gebens
und Nehmens zwischen BRD und DDR, des - vereinfacht gesagt - Handels von ökonomischer
Hilfe gegen politische Zugeständnisse, die freilich in der Regel auch von
der DDR-Bevölkerung gewünscht wurden. Es waltete Pragmatismus, ohne
dass Kohl bis zum Ende des Jahres 1989 an eine schnellen Vereinigung glaubte.
Als die Grenze geöffnet wurde, weilte er ahnungslos in Warschau, und noch
in seinem Zehn-Punkte-Plan von Ende November brachte er vorsichtig lediglich
»konföderative Strukturen« ins Spiel. Erst als er bei seinem
Besuch in Dresden drei Wochen später von den DDR-Bürgern umjubelt
wurde, begriff er die Chance, die sich ihm bot, und handelte ohne Zögern.
In der alten Bundesrepublik schien sich seine Zeit schon dem Ende zuzuneigen,
aber eine Laune des Schicksals, der er kräftig nachhalf, machte ihn nun
noch zum »Kanzler der Wiedervereinigung«.
Helmut Kohl spielte
damit eine Stärke aus, die ihm in seiner langjährigen Karriere immer
wieder geholfen hatte - die Fähigkeit, instinktsicher Gelegenheiten zu
erkennen und sie zu nutzen, unter Mithilfe eines kleinen, aber schlagkräftigen
Teams loyaler Gefährten. 1966 war er CDU-Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz
geworden, schon drei Jahre später stieg er zum Ministerpräsidenten
auf - und zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden seiner Partei. 1973 wurde
er CDU-Chef, musste aber noch bis 1982 warten, ehe ihm die FDP durch den Wechsel
zur Union den Kanzlerposten verschaffte. Mit Rainer Barzel und Franz Josef Strauß
hatte er seine Rivalen ausgeschaltet und war zur unumstrittenen Führungsfigur
der Union geworden, die nun die CDU 25 Jahre lang führten und 16 Jahre
als Bundeskanzler amtierten sollte.
Politik war seine eigentliche Heimat,
schrieb sein Sohn Walter 2011: »Seine wahre Familie heißt CDU, nicht
Kohl. Er fühlte sich in einem archaischen Sinne als der Clanchef eines
Stammes, der sich CDU nennt … Jahrzehntelang hat er sein Bestes in Partei- und
Gremienarbeit investiert, hat er 'Entscheidungen am Fließband getroffen',
wie er es nannte.« Vor diesem Hintergrund ist verständlich, wenn
er am Ende oft mit seinem vermeintlich unverdienten Schicksal haderte, das ihm
die ganz große historische Würdigung versagte. Gerade er, den geschichtliche
Vorgänge, Schicksale, Personen stets fasziniert hatten und der sich beizeiten
einen Platz in ruhmreicher Vergangenheit zu sichern suchte, hat dies als unerträglich
empfunden.
Dabei hat es nie an gegenläufigen Bemühungen gemangelt.
Vor allem natürlich in seiner Partei gab es viele, die den Patriarchen
immer wieder auf das Podest heben wollten. Doch dessen schmählicher Abgang
aus Kanzleramt und Konrad-Adenauer-Haus, vergiftet später durch die bis
heute nicht aufgeklärte Schwarzgeldaffäre, ließ wenig Raum für
einen Herrenkult. Weil er den Verzicht auf solche Apotheose seinen Nachfolgern
bis zuletzt übel nahm, stand er erst gegen die CDU, am Ende allenfalls
neben ihr.
Für Helmut Kohl zählte nur der Erfolg - ob in der
Politik oder im Privaten. Blieb der ihm versagt, mangelte es ihm an Fantasie
und Ausdauer, mit der Situation so umzugehen, dass es doch noch zu einem positiven
Ausgang kam - ob im eigenen Haushalt oder im Staatsamt. Kurt Biedenkopf, einer
seiner frühen Vertrauten, sah in ihm »weniger einen Politiker, der
in ungeklärten Situationen gestaltend eingreift, sondern er wird dann lieber
... warten«. Kohl saß Probleme einfach aus und nahm dabei Scheinlösungen
in Kauf. So fehlte es ihm auch an langfristiger Gestaltungskraft, als die deutsche
Einheit erreicht war; viele der nach 25 Jahren noch immer bestehenden Probleme
gehen auf sein Konto.
Bei der europäischen Einigung war Helmut Kohl
der historische Symbolwert des Augenblicks ebenfalls wichtiger als ein krisenfestes
und nachhaltiges, weil auf fairen Ausgleich von Geben und Nehmen entsprechend
den jeweiligen Möglichkeiten gerichtetes Reglement. Der Maastricht-Vertrag
orientierte nicht auf Solidarität zwischen den Euro-Staaten, sondern legte
sie auf eigenverantwortliches Handeln fest. Dies wurde aber durch den Druck
gewaltiger Heilserwartungen, die mit der Euro-Einführung geschürt
wurden, für die meisten zur unlösbaren Aufgabe. So profitierten die
Reichen vom Euro zu Lasten der ärmeren Länder, die ihren europäischen
Einstand mit immer weiter wachsenden Schulden erkauften. So weitsichtig war
Kohl nicht, dass er diese Entwicklung erahnte, die gerade jetzt am Beispiel
Griechenland kulminiert ist. Nach nur einem Dutzend Jahren europäischer
Währung stand auch er zuletzt vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Politik.
Wesentlicher
Grund dieses Mankos war Kohls ideologische Sicht auf die Welt, vor allem in
der Innenpolitik. Hier sah er zum Beispiel in den »Soz’n« einen
auch persönlichen Feind, dem »auf’s Haupt zu schlagen« sei;
auf das häufig strapazierte Bonmot von seinem Hund, der beim Nennen des
Namens eines Sozialdemokraten geknurrt habe, antwortete er grinsend, das sei
ein besonders intelligenter Hund, ein deutscher Schäferhund gewesen, der
eben zu differenzieren vermochte.
Aus dieser Unversöhnlichkeit zu
Gegnern seiner Politik resultierte auch sein unbeherrschtes Reagieren ihnen
gegenüber - bis hin zu cholerischen Ausbrüchen. Legendär wurde
sein Vorgehen gegen einen Eierwerfer in Bitterfeld, den er zum Schrecken seiner
Sicherheitsbeamten persönlich zu verprügeln gedachte. Aber auch Pfiffe
und Buhrufe bei Wahlkampfveranstaltungen quittierte er oft mit rüden Gegenattacken.
Auf kritische Fragen von Journalisten reagierte er gern harsch und ablehnend;
selbst die ihn fast nur hofierende »Bild«-Zeitung fiel einmal in
Ungnade, als sie ihn als »Umfaller« in horizontaler Position abbildete.
Und Kohls ewige Klage über die mangelnde Dankbarkeit, die »Eiseskälte«
in der Politik kommt letztlich auch aus dem Unverständnis darüber,
dass andere eine andere Sicht auf die Welt haben und sich von ihm nicht überzeugen
lassen.
Helmut Kohl traf ziemlich genau den vorherrschenden Charakter
des bundesdeutschen Nachkriegsbürgers. Mit solch rechthaberischer Haltung,
die erst unlängst sein zeitweiliger und dann in Ungnade gefallener Ghostwriter
Heribert Schwan in einer geballten Ladung ehrenrühriger Zitate über
»Freund« wie Feind vor wenig überraschtem Publikum ausbreitete
und die ihren Höhepunkt wohl im Umgang mit dem CDU-Parteispendenskandal
Anfang der 90er Jahre fand. Und auch mit seiner »Ausstrahlung des biederen
Hausvaters«, wie es der Publizist Peter Merseburger einmal nannte. Kohl
gab - schon durch seine körperliche Präsenz - den durch den Krieg
verunsicherten Menschen das Gefühl, wieder wer zu sein, hob sich aber zugleich
von ihnen nicht allzu sehr ab. Seine beliebten Inszenierungen, bevorzugt an
Soldatengräbern mit den früheren Kriegsgegnern, dienten dem ebenso
wie die Zurschaustellung einer bodenständigen Lebensweise vom »Deidesheimer
Hof« mit seinem Saumagen über das Basteln im Hobbyraum und die Hans-Albers-Lieder
auf dem Plattenspieler bis zum Urlaubsdomizil inmitten deutschen Nutzviehs am
Wolfgangsee. Dieser Mischung verdankte er nicht zuletzt seine wiederholten Wahlerfolge.
Noch einmal Merseburger: »Der Wähler glaubt sich seiner Normalität
näher, vielleicht auch seiner anständigen Durchschnittlichkeit.«
Helmut
Kohl war ohne Zweifel ein erfolgreicher Politiker, auch wenn ihm dazu immer
wieder auch das Glück verholfen hat. Wo es das nicht tat, half er nach
- nicht zuletzt mit Mitteln am Rande der Legalität. Insofern war er auch
ein typischer Politiker, der - nach Max Weber - »daran nicht zerbricht,
wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist
für das, was er ihr bieten will«, der »all dem gegenüber:
›dennoch!‹ zu sagen vermag«. Helmut Kohl hat das vermocht, weil er Politik
vor allem anderen zu seinem Lebensinhalt machte, darüber sogar seine Familie
zerbrechen ließ. Ganz am Anfang seiner Karriere hat er das Amt des Bundeskanzlers
einmal als eins bezeichnet, »das voller Schrecken ... ist und sehr stark
die menschliche Nähe und die menschliche Wärme entbehrt«. Diese
hellsichtige Erkenntnis hat ihn nicht aufgehalten, weil er, der Machtmensch,
ihr dann wohl doch nicht glaubte. Nun ist er im Alter von 87 Jahren gestorben.