Radio Vatikan: Die gegenwärtige Krise der Demokratie und der
politischen Öffentlichkeit und die Krise, die die christlichen Kirchen
in Form von Relevanz- und Gläubigenverlust erfahren, hängen miteinander
zusammen. Diese These vertrat Hartmut Rosa (..). Fluchtpunkt beider Krisen sei
nämlich ein Verlust an "Resonanzfähigkeit", d.h. der Verlust
der Fähigkeit, "sich vom Anderen und von anderen affizieren, berühren
zu lassen".
Atheistische Anmerkung: "Affizieren"
bedeutet laut Duden "bewegen, reizen; auf jemanden Eindruck machen, sich
übertragen". Es ist sprachlich mit dem "Affekt" verwandt,
der im Duden als "heftige Erregung, Gemütsbewegung; Zustand außergewöhnlicher
psychischer Angespanntheit" definiert wird, man sollte daher wohl vorsichtig
sein, affiziert zu werden, "affiziert" wird nämlich mit "gereizt"
umschrieben.
Radio Vatikan: Auf der anderen Seite beschreibt Religion
doch eine wesentliche Kompetenz, die auch Demokratie und Öffentlichkeit
benötigen: "Politische Öffentlichkeit funktioniert nur auf Basis
einer im weiteren Sinne religiösen Grundhaltung." Religion beschreibe
ursprünglich genau dieses Angesprochen-Werden: Der Mensch erfahre sich
in der Religion als "Angesprochener", die Welt ist ihm in dem Moment
nicht mehr "kalt, leer und still", sondern ein Ort der Hoffnung, dass
"sein Schreien, Flehen, Hoffen" auf eine Antwort trifft. Die Dauerbelastung
aus Beschleunigung, Stress und permanenter ökonomischer Steigerungserwartung
würde jedoch diese Fähigkeit, eine Antwort wahrzunehmen, in den Hintergrund
rücken lassen. "Es verhindert, dass wir in den Modus der Resonanzfähigkeit,
ja, der Lebendigkeit hineinkommen. Die Welt wird scheinbar sicherer, unsere
Weltreichweite vergrößert sich, aber wir werden zunehmend unglücklicher",
so der Soziologe.
Atheistische Anmerkung: Also meinereiner hat
sich in seinem schulischen zwangsreligiösen Zeitalter (1953-1965) nicht
als Angesprochener, sondern als Verfolgter, Unterdrückter, Drangsalierter,
Diktierter gefühlt, meine Hoffnung in den Religionsstunden wurden durchs
das Läuten der Pauseglocke erfüllt! Endlich war diese Situation der
Kälte, der Leere und des Schweigegebotes vorbei!
Hartmut Rosa entdeckte
offenbar das "Opium des Volkes" wieder, sein Satz die religiöse
Welt sei "ein Ort der Hoffnung, dass 'sein Schreien, Flehen, Hoffen' auf
eine Antwort trifft", ist deckungsgleich mit dem Text von Karl Marx: "Das
religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in
einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer
der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der
Geist geistloser Zustände ist." Das Problem dabei ist es heute wie
seinerzeit: das religiöse Opium hat keine Realität, sondern erzeugt
nur Emotionen, die Trost spenden und Hoffnung erwecken können, das religiöse
Opium ist ein Placebo. Dass es heute eine Menge Menschen gäbe, die transzendente
Fragen stellen und transzendente Antworten suchen, ist ein Irrweg im Denken.
Allerdings
gibt es tatsächlich eine Parallelität zwischen Religion und Demokratie:
Im neoliberalen Zeitalter hat die Demokratie keine die Gesellschaft steuernde
Bedeutung mehr, weil gesteuert wird alles vom Profitstreben. Was sich u.a. ganz
banal zeigt in der Verschiebung der Bedeutung des Wortes "Reform".
In den Zeiten wo Demokratie noch eine gestaltende Bedeutung hatte, verstand
man unter "Reform" etwas, das im allgemeinen Dasein eine Verbesserung
brachte, heute bedeutet Reform in der Regel: Verschlechterung für die Betroffenen.
Die Masse der Menschen wird zunehmend unglücklich, weil das alleine regierende
Profitsystem für die Allgemeinheit Unsicherheit und Belastungen bringt.
Für einen Soziologieprofessor gilt das natürlich nicht, denn seine
Welt steht ja auf dem Kopf!
Radio Vatikan: Öffentlichkeit
und damit auch Demokratie "funktioniere" immer dort, wo Menschen sich
nicht nur vom Anderen "berühren" lassen, sondern auch die Bereitschaft
mit sich bringen, sich vom Anderen verändern zu lassen. "Gesellschaften,
die sich nicht verändern wollen, die nur den Status quo erhalten wollen,
sind leblose, resonanztaube Gesellschaften." Rechtspopulistische und identitäre
Bewegungen seien entsprechend das Resultat eben jener Krisenerfahrung, "dass
die politische Öffentlichkeit nicht mehr als Resonanzraum der vielfältigen
Stimmen funktioniert", so Rosa. Die Antwort des Populismus, sich hinter
der Stimme einer Leitfigur zu versammeln und die Vielfalt der Stimmen stillzustellen,
sei dabei keine Lösung, sondern verschärfe die Krise noch zusätzlich.
Atheistische
Anmerkung: Ja, der Satz vom Verändern ist ein typischer gutmenschlicher
Klugscheißsatz: weil ein akademischer Gutmensch lebt in einer guten Position,
verspürt nichts von der neoliberalen Realität und schafft seine persönliche
Emporhebung durch helfende Zuwendung an auserwählte Kreise von Mühseligen
und Beladenen. Für Prof. Rosa ist selbstverständlich seine Stimme
eine vielfältige Stimme, die Resonanz zu finden hat! Dass die breite
Masse der Bevölkerung keine Stimme mehr hat, die sich für sie erhebt,
weiß so ein Professor selbstverständlich nicht, er hat was er
braucht, er fühlt sich wohl und erhaben, ihn interessiert die breite Masse,
die schon seit zwanzig Jahren ohne Reallohnerhöhungen, aber mit ständig
steigendem Arbeitsdruck leben muss, nicht. Dieses Nichtinteresse ist kein vorsätzlichen
und böswilliges, nein das ist einfach die furchtbare Ferne der Eliten zur
Realität! Er kommt nicht einmal ansatzweise auf die Idee, sich mit der
Lebensrealität der arbeitenden Menschen zu befassen, er will die Leute
allerdings mit seinen irrealen Ideen belehren und ergreifen.
Aber die
Welt ist eben so: die Religionen werden als Hilfe eher nicht mehr angerufen,
weil man meistens weiß, das nutzt nichts. Und die neoliberale "Demokratie"
fordert ungewollt die Menschen auf, Proteststimmen abzugeben. Proteststimmen,
die dann nicht nach ihren realen Ursachen untersucht werden. Wenn 85 % der Arbeiter
2016 bei der Bundespräsidentenwahl den FPÖ-Kandidaten Hofer
gewählt haben, dann hätte das eigentlich als eine lautstarke Stimme
gegen das elitengesteuerte System der neoliberalen Ausbeutung wahrgenommen werden
müssen. Diese Stimme wurde und wird nicht wahrgenommen, nicht einmal von
der FPÖ, niemand hat sich davon "affizieren" lassen...