Zwischen Religion und Atheismus: Okkultismus boomt

Publiziert am 12. November 2017 von Wilfried Müller auf www.wissenbloggt.de

Was bleibt den Leuten, die der Religion skeptisch gegenüberstehen, die aber im Atheismus keine Erfüllung finden? Nun ja, da gibt's noch den guten alten Okkultismus mit seinen faulen Zauberkräften, seinen Bannflüchen und seinem Hexeneinmaleins (Bild: 13smok, pixabay).

Das ergibt endlich weder eine Gelegenheit, Goethe zu zitieren. Der Zauberspruch von Goethes Hexe:


"Du mußt verstehn!
Aus Eins mach’ Zehn,
Und Zwei laß gehn,
Und Drei mach’ gleich,
So bist Du reich.
Verlier’ die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex’,
Mach’ Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!"

(Bespoilertes Hexen-Arbeitsgerät, Bild: Gisbert Glökler, Wikimedia Commons)

Also hocus pocus fidibus, dreimal schwarzer Kater, hier kommt der Okkultismus-Artikel. Benannt ist er nach einem Donovan-Song Season of the Witch (New York Times 3.11.). Referiert ist er von wissenbloggt, geschrieben ist er von der Journalistin und Kolumnistin Michelle Goldberg, einer Allzweckautorin für Politik, Gender, Religion und sonstiges Gedankengut.

Goldberg hat sich vor Ort gewagt und eine Unterrichtsstunde namens “Witchcraft 101: Curses, Hexes and Jinxes” besucht. Von Bannfluch, Zauberbann und Verhexen ist also die Rede in einer fashionablen Okkult-Boutique "Catland" in Bushwick, Brooklyn, USA. Das Publikum besteht aus einem Dutzend junger Frauen, garniert mit wenigen Personen anderen Geschlechts. Der Vortragende ist ein vormaliger Make-Up-Berater der Firma M.A.C. Er hat sich hübsch aufgebrezelt, ganz in Schwarz, mit Bart und langen lila Fingernägeln. Seine Lehre lautet: Akzeptiert, dass das Universum Chaos ist, sonst kommt ihr nicht weit.

Und Hexerei ist die Möglichkeit, in einer Welt ohne Moral Kräfte auszuüben, eine übernatürliche Technologie, um für sich selbst zu sorgen, wenn's niemand anders tut. Hexerei macht euch zum Gebieter eurer eigenen Gerechtigkeit.

Diese schlichte Ideologie wird nun von Goldberg analysiert: Chaos, das ist, weil die traditionellen Institutionen versagen, und niemand ist dafür verantwortlich. Die Glaubensgewissheiten schwinden dahin, und nichts kommt nach. Die Menschen sind gefangen zwischen kultureller Verzweiflung und kosmischen Hoffnungen. Das liefert die Erkilärung für den auffälligen Bedarf nach Okkultismus unter Millennials (Generation Y).

Aber die Anläufe zur angewandten Hexerei sind vielfältig und nicht auf die heutige Jugend beschränkt. In der Vorkriegszeit hatten die USA schon eine spirituelle Bewegung, im vor-revolutionären Russland florierte der Okkultismus, ebenso in der Weimarer Republik, wie auch in den aufgewühlten USA der 1970er Jahre – und heute.

Darüber gibt's auch Bücher, die hier keine Erwähnung wert sind. Die Hexerei hat quasi ein neues Gütesiegel, das irgendwie am gegenwärtigen politischen und kulturellen Niedergang hängt.

Überall gibt's jetzt Hexen, ist die Aussage dazu. Sowas wird schriftlich verbreitet, zusammen mit Utensilien wie Kerzen, Fasanenfüßen und Gläsern voll Mausknochen, was halt so der Hexereibedarf ist. Dann gibt's ein feministisches Hexereimagazin, das die geneigte Leserschaft mit Star-Hexen traktiert. Dazu allerlei magische Paraphernalia, die man bestellen kann – das ganze geht nahtlos in die Halloween-Kultur über.

Teils dienen die Hexen nur als Metapher für wütende halbstarke Weiber, aber oft ist es ernst gemeint, als eklektische spirituelle Praxis. Da kommen diese Leute ins Bild, die der Religion und dem Atheismus gleichermaßen abhold sind. Bei denen sieht die Autorin ernsthafte Anläufe zur Hexerei, und das interessiert sie vor allem aus der Sicht der sozialen Krise heraus.

Wenn die etablierten Kräfte und Strukturen einen beiseiteräumen, liefert die Hexerei einen Hintereingang zurück in die Mitte, oder wenigstens Möglichkeiten, die Umstände passend zu beeinflussen. Mit solcher Argumentation werden die Leute geködert. Das Ganze läuft corrct geschlechtsneutral (they und them, auf gender-deutsch wären das keine Hexen, sondern Hex*innen).

Mag schon sein, dass der neue Atheismus von Richard Dawkins und Christopher Hitchens die junge Generation beeinflusst. Aber das ist nicht genug. Wo die Religion war, klafft nun ein Vakuum, und das will gefüllt werden.

An der Vakuum-Befüllung arbeiten eine Menge Leute. Erwähnt wird die New-Age-Bewegung, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, und überhaupt der ganze Mischmasch um Theosophie, Mystizismus, Okkultismus.

Aus der Sicht der Autorin verliert die technologische Rationalität langsam ihren Rückhalt. Die okkultistische Jugendkultur gibt's schon länger, aber nun wirkt sich der US-Präsi Trump als Okkultismusbeschleuniger aus. Mit Trump beschleunigte sich das Interesse in Hexerei – die Hexerei ist politisch geworden. Jeden Monat vereinigen sich Tausende von Hexen, Neu-Heiden, und anderen Magie-Anhängern, um einen Bannfluch gegen Trump zu schleudern: “So that he may fail utterly. That he may do no harm” (er soll gänzlich scheitern, er soll keinen Schaden anrichten).

Sonst ist man ja machtlos, so die Argumentation. Man muss halt die Mittel nutzen, die zur Verfügung stehen – na, dann eben den Präsi verhexen. Welche Mittel man da sonst noch einsetzt? Flüche (“cursing ingredients”), und der Psalm 109:8-11 tut's auch ("Seiner Tage müssen wenig werden, und sein Amt müsse ein anderer empfangen. Seine Kinder müssen Waisen werden und sein Weib eine Witwe. Seine Kinder müssen in der Irre gehen und betteln und suchen, als die verdorben sind.").

Anscheinend werden die Psalme gern als Bannfluch genutzt, auch wenn es schon die Bewegung gibt, dass man sich was Eigenes dichtet. Bisher tun's die Psalmen aber noch, sie wurden schon gegen den US-Präsi Obama eingesetzt. Die modernen Hexen-Jockeys müssen nix neu anbringen, sie liefern laut Eigenauskunft bloß "die Strukturen drumrum und die Methoden dahinter" Bild: kropekk_pl , pixabay).

Solch wertvolle Menschheitshilfe steht nicht allein. Die Autorin Goldberg sieht den großen Kontext: Seit Dekaden hat das US-Recht die poltitische Kriegsführung spiritualisiert und sie als Kampf zwischen Gut und Böse verklärt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn mit dem Aufstieg von Trump übersinnliche Reaktionen bei der Linken ausgelöst werden. Bedeutet der US-Präsi für viele doch die Umkehrung allen Anstands und aller ordentlichen Werte. In der Sicht der Außenstehenden mögen die okkultistischen Millennials dumm dastehen. Aber man muss nicht an Hexerei, Zauberkraft und Magie glauben, um sie als ernsthaftes Zeichen der Kritik zu sehen. Viele Leute finden die Gegenwart untolerabel. Unter der Oberfläche der US-amerikanischen Kultur brodelt es.

Da kann man nur hoffen, dass Mirakulix sein Rezept für den Zaubertrank mal preisgibt, damit die Hexinnen und Herxeriche zu Kräften kommen. Lieber Okkulti wie gar kein Kulti, oder?

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