Das Berliner
Neutralitätsgesetz regelt in bundesweit vorbildlicher Weise
die staatliche Pflicht zur religiösweltanschaulichen Neutralität für
den öffentlichen Dienst. Es gewährleistet die religiöse und
weltanschauliche Gleichbehandlung der rund 250 religiösen und weltanschaulichen
Bekenntnisse in Berlin. In der Justiz, bei der Polizei, im Strafvollzug und
auch an allgemeinbildenden Schulen geht die Neutralität vor. Demonstrative
religiöse und weltanschauliche Symbole dürfen von den Beschäftigten
während ihrer Dienstzeit nicht getragen werden.
Das Gesetz diskriminiert
niemanden, gerade weil es keiner Religion einen Sonderstatus zugesteht.
Dabei muss es bleiben. Wo Menschen sich dem staatlichen Einfluss nicht entziehen
können, haben sie aufgrund des Neutralitätsgebotes einen Anspruch
darauf, keiner ungewollten religiösen oder weltanschaulichen Beeinflussung
ausgesetzt zu sein, so subtil diese Beeinflussung auch sein mag. Dies gilt eindeutig
vor Gericht, im Zusammenhang mit der Polizei und im Strafvollzug.
Kinder
und Jugendliche sind ausgeliefert
Womöglich aber noch brisanter
ist die Situation in den allgemeinbildenden Schulen. Die Schulpflicht gilt für
Kinder und Jugendliche. Es ist keine persönliche freiwillige Entscheidung,
zum Unterricht zu erscheinen oder ihm fernzubleiben. Die SchülerInnen wären
ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss religiöser Symbole ausgesetzt,
wenn diese erlaubt würden.
PädagogInnen müssen für
ihre SchülerInnen Vorbilder sein, an denen diese sich orientieren können.
Auch die Kleidung spielt dabei eine Rolle. Selbst wenn PädagogInnen mit
religiös motivierter Kleidung nicht missionieren wollen, können sie,
auch ganz subtil, Einfluss ausüben. Insbesondere die jungen GrundschülerInnen
sind nicht in der Lage, die religiöse Bedeutung eines Kleidungsstückes
rational zu verarbeiten und sich bewusst kritisch damit auseinanderzusetzen.
Das
Neutralitätsgesetz wird insbesondere von Justizsenator Behrendt und aus
den Koalitionsparteien Linke und Grüne heraus in Frage gestellt. In Berlin
geht es aktuell um das religiöse Kopftuch, das eine Minderheit von Musliminnen
trägt und auch im Dienst tragen will. Referendarinnen, die Kopftuch tragen,
haben in Berlin um Einstellung an allgemeinbildenden Schulen geklagt. Deshalb
findet zurzeit eine "Kopftuch-Debatte" statt. Nur dies zu betrachten
wäre aber verkürzt. Denn es geht um Neutralität generell. Kann
ausgeschlossen werden, dass eines Tages christliche SektiererInnen mit spezieller
Kleidung Schulunterricht erteilen wollen? Ist das Gesetz erst einmal beschädigt,
kann nicht anderen das verwehrt werden, was jetzt durch Aufhebung oder Aufweichung
des Neutralitätsgesetzes einer innermuslimischen Minderheit zugestanden
werden soll.
Vor Jahrzehnten bereits hat es eine ähnliche Situation
gegeben: Die Bhagwan-AnhängerInnen wollten im Schuldienst ihre orange-rote
Uniform tragen. Damals entschieden die Gerichte, dass die Schulbehörden
dies untersagen dürften. Die nach wie vor aktuelle Begründung von
damals: Durch das Tragen auffälliger Kleidung würden die minderjährigen
und leicht beeinflussbaren Kinder veranlasst, sich näher mit diesen LehrerInnen
zu befassen. Schon dadurch werde der Schulfriede gestört und es bestünde
die Gefahr einer werbenden Information für die Bhagwan-Bewegung.
"Die negative Religionsfreiheit ist nicht weniger geschützt
als das Grundrecht auf Religionsausübung."
Heute kommt
noch hinzu, dass es erhebliche Auseinandersetzungen in den Schulen um die "richtige"
muslimische Kleidung, die "züchtige" Bedeckung junger Mädchen,
um das Fasten im Ramadan gibt. Eine Lehrerin, die mit ihrer Kleidung eine stark
konservative Ausrichtung ausdrückt, würde Kinder und deren Familien,
die nicht streng religiös sind, noch weiter unter Druck setzen.
Gerade
von GrundschullehrerInnen in Berliner Bezirken mit einem sehr hohen Anteil muslimischer
SchülerInnen wird für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes argumentiert.
Dort werden immer mehr ganz junge Schülerinnen in orthodox-"züchtiger"
Weise von ihren Eltern gekleidet und zu entsprechendem Verhalten aufgefordert.
Eine das Kopftuch tragende Lehrerin kann hier subtil verstärkend hinsichtlich
bestimmter weiblicher Rollenbilder und religiös motivierter Verhaltensweisen
wirken.
Das Neutralitätsgesetz schützt
Im Gegensatz
zu mancher Verlautbarung pro Kopftuch geht es nicht allein um die Rechte der
Pädagoginnen. Schulpflichtige Kinder und Jugendliche haben einen grundrechtlichen
Anspruch auf einen Unterricht ohne unerwünschte religiöse Beeinflussung
oder gar Indoktrination. Die negative Religionsfreiheit ist nicht weniger
geschützt als das Grundrecht auf Religionsausübung. Diesen Schutz
gewährleistet das Neutralitätsgesetz. Wer als Pädogin nicht einmal
während des Dienstes in der Schule auf Symbole wie Kruzifix oder Kopftuch
zu verzichten bereit ist, begründet erhebliche Zweifel am Willen zur religiösen
Neutralität im Dienst.
In Berlin wird die Diskussion an zwei Stellen
geführt. Einmal geht es um das Neutralitätsgesetz für den öffentlichen
Dienst selbst und dessen Erhalt. Mit dem von Justizsenator Behrendt geplanten
Anti-Diskriminierungsgesetz soll außerdem auch Lehrerinnen, die sich erst
nach ihrer Einstellung zum Tragen des religiösen Kopftuches bekennen, Zugang
zu Schadensersatz ermöglicht werden.
Die Initiative
PRO Berliner Neutralitätsgesetz fordert vom Berliner Senat und den
Regierungsparteien im Abgeordnetenhaus eine klare Absage an jede Form der Vermischung
hoheitlicher Tätigkeit im öffentlichen Dienst mit religiöser
Symbolik. Eine Erklärung der Initiative wurde von über 50 namhaften
ErstunterzeichnerInnen unterstützt und bereits vor Weihnachten dem Regierenden
Bürgermeister Müller, Schulsenatorin Scheeres sowie Justizsenator
Behrendt übermittelt. Mittlerweile sind es hunderte Unterschriften. Die
Initiative sammelt weiter Unterschriften, die dem regierenden Bürgermeister
übergeben werden sollen.