"Lassen Sie uns einen Blick auf die Rolle werfen, die dem Fremden im
Kontext der Nationalstaaten zugewiesen worden ist. Angesichts des destruktiven
Potenzials im Umgang mit der Fremdheit sollten wir die Zivilität umso höher
schätzen, um die sich die Menschheit immer wieder bemüht hat. Wir
wissen, dass es ohne Affektkontrolle keine Zivilität geben kann. Affektkontrolle
aber, die durch reine Repression erreicht wird, löst den zugrundeliegenden
Konflikt genauso wenig wie ein Krieg. Gewaltfreie Veränderungen hingegen
setzen voraus, dass wir die Fremden "entfeinden" und das Eigene entidealisieren.
(...)
Ein Nationalstaat darf sich nicht überfordern. Wer sich vorstellt,
quasi als imaginierter Vertreter eines Weltbürgertums alle Grenzen des
Nationalstaates hinwegzunehmen, überfordert nicht nur die materiellen,
territorialen und sozialen Möglichkeiten eines jeden Staates, sondern auch
die psychischen Möglichkeiten seiner Bürger. Sogar der weltoffene
Mensch gerät an seine Grenzen, wenn sich Entwicklungen vor allem kultureller
Art zu schnell und zu umfassend vollziehen.
Einen großen Einfluss in
der Integrationspolitik hat lange Zeit die Konzeption des Multikulturalismus
gehabt: Was sich auch immer hinter den einzelnen Kulturen verborgen hat - Vielfalt
galt als Wert an sich. Die Kulturen der Verschiedenen sollten gleichberechtigt
nebeneinander existieren, für alle verbindliche westlich-liberale Wertvorstellungen
wurden abgelehnt. Ich verstehe, dass es auf den ersten Blick tolerant und weltoffen
anmuten mag, wenn Vielfalt derart akzeptiert und honoriert wird. Wohin ein solcher
Multikulturalismus aber tatsächlich geführt hat, das hat mich doch
erschreckt.
So finde ich es beschämend, wenn einige die Augen verschließen
vor der Unterdrückung von Frauen bei uns und in vielen islamischen Ländern,
vor Zwangsheiraten, Frühheiraten, vor Schwimmverboten für Mädchen
in den Schulen. Wenn Antisemitismus unter Menschen aus arabischen Staaten ignoriert
oder mit Verweis auf israelische Politik für verständlich erklärt
wird. Oder wenn Kritik am Islam sofort unter den Verdacht gerät, aus Rassismus
und einem Hass auf Muslime zu erwachsen. Sehe ich es richtig, dass in diesen
und anderen Fällen die Rücksichtnahme auf die andere Kultur als wichtiger
erachtet wird als die Wahrung von Grund- und Menschenrechten?
Ja, es gibt
Hass und Diskriminierung von Muslimen in unserem Land. Und sich diesem Ressentiment
und dieser Generalisierung entgegenzustellen, sind nicht nur Schulen und Politik
gefordert, sondern jeder Einzelne. Beschwichtiger aber, die kritikwürdige
Verhaltensweisen von einzelnen Migranten unter den Teppich kehren, um Rassismus
keinen Vorschub zu leisten, bestätigen Rassisten nur in ihrem Verdacht,
die Meinungsfreiheit in unserem Land sei eingeschränkt. Und sie machen
sich zum Verbündeten von Islamisten, die jegliche, auch berechtigte Kritik
an Muslimen abblocken, indem sie sie als rassistisch verunglimpfen.
Zu viele
Zugezogene leben noch zu abgesondert mit Werten und Narrativen, die den Gesetzen
und Regeln und Denkweisen der Mehrheitsbevölkerung widersprechen, zu viele
leben hier seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten, ohne die Geschichte dieses
Landes zu kennen. Um das zu ändern und uns gemeinsam auf eine Zukunft in
diesem Land zu verständigen, brauchen wir - wie einst zwischen einheimischen
und vertriebenen Deutschen - vor allem eines: mehr Wissen übereinander.
Mehr Dialog. Mehr Streit. Mehr Bereitschaft, im jeweils Anderen unseren eigenen
Ängsten, aber auch neuen Chancen zu begegnen."