"Neue Krise sehr wahrscheinlich"

Kritischer Ökonom im Interview am 9.3.2019 auf https://deutsch.rt.com/

 
Vladimiro Giacché auf der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Bildquelle: www.globallookpress.com © imago stock&people/Christian-Ditsch.de

Deutschland habe mit seinem zwanghaft exportorientiertem Wirtschaftsmodell auf Basis des Euros tiefe Spaltungen in der Eurozone verursacht, erklärt der Ökonom Giacché im Interview. Es sei fraglich, ob dieses Modell eine neue Krise überdauern kann. Der Ökonom Vladimiro Giacché ist Vorsitzender des Centro Europa Ricerche, ein italienisches Forschungsinstitut für angewandte Wirtschaftsanalyse. Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow

In Deutschland wird oft das Bild propagiert, wir seien nach der Euro-Krise selbstlos den armen Griechen, Spaniern, Italienern u.a. zu Hilfe geeilt. Was steckt tatsächlich hinter den Bemühungen in Berlin, den Euro-Raum zusammenzuhalten?
Diese Gute-Samariter-Theorie ist aus zweierlei Gründen falsch. Erstens: Kein Staat hat in den letzten 10 Jahren so viel von den niedrigen Zinsen und den sonstigen monetären Erleichterungsmaßnahmen (d.h. von der quantitativen Lockerung, quantitative Easing auf Englisch) profitiert wie Deutschland. Nach einer Untersuchung des Centro Europa Ricerche (CER) in Rom hat ausgerechnet Deutschland am meistens an Zinsen gespart (280 Mrd. Euro), dann kommen Frankreich (230 Mrd.) und Italien (140 Mrd.). Wie von der Bundesbank bestätigt, hat Deutschland am stärksten von der Zinserleichterung profitiert, mit einer kumulierten Einsparung von 294,1 Milliarden Euro (siehe Handelsblatt). Zweitens: Vor Draghis bekannten "whatever it takes"-Rede war nicht nur Spaniens und Italiens Finanzstabilität durch die Spekulation gefährdet: Sogar der Fortbestand des Euro insgesamt wurde dadurch in Frage gestellt. Deswegen, und nicht aus Wohlwollen für die armen Spanier und Italiener, wurde Draghi durch Merkels Regierung freie Hand gelassen.
Das Ende des Euro wäre nämlich vor allem für Deutschland ein Alptraum: Das Freiburger Zentrum für europäische Politik (CEP) hat gerade eine Studie veröffentlicht, in der nachgewiesen wird, dass nämlich Deutschland der Hauptgewinner nach 20 Jahren Euro ist. "Deutschland" – kann man in dieser Studie lesen - "hat von der Euro-Einführung bei weitem am meisten profitiert: von 1999 bis 2017 in Höhe von fast 1,9 Billionen Euro. Dies entspricht rund 23.000 Euro je Einwohner." Es war (und es ist) also vor allem in Deutschlands Interesse, den Euro zu retten. Natürlich ist diese Euro-Dividende innerhalb Deutschlands sehr ungleich verteilt worden, aber das ist eine andere Frage…

Der Euro wird in der Öffentlichkeit gerne als Erfolgsgeschichte präsentiert. Aber mit welchen Kosten war das Projekt Euro verbunden, vor allem für die normale arbeitende Bevölkerung in der EU?
Der Euro hat schlicht und einfach seine Versprechen nicht eingehalten. Die gemeinsame Währung hat tatsächlich die Nationalökonomien des Euroraums nicht angenähert, sondern weiter voneinander weggetrieben. Selbst die "Gewinner" erleben eine immer größere innere soziale Spaltung. Diese störenden Phänomene haben eine gemeinsame Wurzel: Das Wettbewerbsmodell der Eurozone ist auf die sogenannte "Lohnmoderation" gegründet. Das heißt: Ich werde umso wettbewerbsfähiger, desto weniger ich vom Produktivitätszuwachs den Löhnen übergebe. Gerade das ist in Deutschland passiert: Seit 2000 bis 2012 ist die Arbeitsproduktivität um etwa 14 Prozent gestiegen, aber in derselben Periode haben sich die reellen Löhne sogar verringert.
Damit wird auch ein merkwürdiges Phänomen erklärt: Nämlich, dass innerhalb eines Exportmeisters wie Deutschland ein sehr tiefes soziales Unbehagen festzustellen ist. Fazit: Das auf Lohndeflation gegründete Exportmodell spaltet Europa, und zugleich zerreißt die innere soziale Kohäsion. Deswegen ist es unhaltbar.

Jahrelang bestimmte das Thema Eurokrise die Medien. Jetzt wird darüber nur noch selten geredet. Dem Wirtschaftsraum EU gehe es besser, heißt es. Haben wir die Krise wirklich ganz überstanden?
Die wirtschaftliche Lage hat sich tatsächlich bis zur ersten Hälfte des Jahres 2018 erholt, hauptsächlich dank einer besseren Exportleistung der Staaten des Euro-Raums nach Staaten außerhalb der EU. Dann traten die ersten Probleme im internationalen Handel auf, und jetzt ist das Ende des Zyklus wahrscheinlich in Sicht. Wir haben aber seitdem die strukturellen Probleme nicht gelöst, die die Krise verursacht hatten. Manche Länder - darunter Italien - haben die Höhe des Bruttoinlandsproduktes von 2007 noch gar nicht wieder erreicht, und der Euroraum hat insgesamt in den letzten 10 Jahren nur eine bescheidene wirtschaftliche Leistung erbracht.

Im Mai sind EU-Wahlen. Die deutsche Linkspartei meint, diese Union sozialer und friedlicher gestalten zu können. Wie realistisch ist das?
Nicht sehr wahrscheinlich, leider. Es ist schwer einzusehen, wie Verträge, die nur einstimmig verändert werden können, in eine ganz anderen Richtung als die heutige umgesteuert werden könnten. Man sollte endlich die Dinge betrachten, wie sie eigentlich sind: Diese EU ist unreformierbar. Es ist natürlich immer wichtig, eine bessere und größere Vertretung im Europäischen Parlament zu erlangen, aber dafür, um die neoliberalen Politikvarianten und die zentralistische Richtung der EU zu bremsen und möglicherweise zu stoppen, anstatt unrealistische Wunschvorstellungen für ein "anderes Europa" zu verfolgen.

Vor der großen Wirtschaftskrise 2007/2008 hatte sich der Irrglaube unter den Mainstream-Ökonomen durchgesetzt, der Kapitalismus sei nicht mehr krisenanfällig. Wie wahrscheinlich ist eine neue Krise im Euroraum aktuell und welche Auswege gibt es?
Eine neue Krise ist sehr wahrscheinlich, und nicht nur im Euroraum. Die 2007/2008 ausgebrochene Finanzkrise war nämlich das Ergebnis von über drei Jahrzehnten, in denen die Profitrate im Dreieck des reifen Kapitalismus (USA, Japan und EU) durch eine umfassende Finanzialisierung aufgebläht wurde. Diese Finanzialisierung hat in dreifacher Hinsicht eine wichtige Funktion geleistet, indem sie durch Kredit- und Finanzblasen die Folgen der realen Kürzung der Arbeitseinkommen gelindert hat, den Ausbruch der Überproduktionskrise in der Industrie aufgeschoben hat und industriellem Kapital, das im Industriesektor eine Verwertungskrise erlebte, neue Investitionsmöglichkeiten mit höheren Profitaussichten verschafft hat.
Nach der Krise hat das gesamte westliche Establishment alles Mögliche unternommen, um jenes zerbrochene Wachstumsmodell wieder in Gang zu setzen. Wodurch? Erstens, durch eine Politik der Sozialisierung aller Verluste, die keinen vergleichbaren historischen Präzedenzfall kennt, allein um das Finanzsystem zu retten. Der FAZ zufolge wurden von den europäischen Staaten nicht weniger als 1.600 Milliarden Euro dafür ausgegeben. Darüber hinaus wurde eine extrem lockere Geldpolitik betrieben (die Zinsen wurden auf Null herabgesetzt), und zuletzt wurde eine wirklich unkonventionelle Geldpolitik (Ankauf von Wertpapiere durch die Zentralbanken) umgesetzt, um die fallenden Kurse an den Finanzmärkten zu unterstützen.
Die Nullzins-Politik der Zentralbanken hat einerseits die globale Verschuldung wieder steigen lassen, und zwar um 72 Billionen US-Dollar - das ist mehr als das BIP-Wachstum (und in dieser Hinsicht ist die Verschuldung der nicht-finanziellen Firmen besonders besorgniserregend). Andererseits erlauben gerade diese extrem niedrigen Zinsen den Zentralbanken einen nur sehr engen Bewegungsspielraum im Falle einer neuen Krise. Das gilt besonders für die EZB.

Welche Staaten und Wirtschaftsbereiche wären besonders anfällig für eine neue Wirtschaftskrise? Könnten die Eurozone und die deutsche Vorherrschaft in der EU eine Krise überstehen?
Natürlich sind die schwächeren Länder der Eurozone für eine neue Wirtschaftskrise sehr anfällig. Aber das Gleiche gilt auch für Deutschland, weil die nächste Krise wahrscheinlich viel zu tun haben wird mit Spannungen im internationalen Handel. Wie das Handelsblatt - wenig verwunderlich - bemerkt hat, ist Deutschland im Exportbereich besonders verwundbar, eben deswegen, weil das Land alles auf den Export gesetzt hat. Eine merkantilistische Politik, einseitig betrieben, kann sehr gefährlich sein. Ich glaube also, dass eine neue Krise die deutsche Vorherrschaft in der EU gerade dadurch in Frage stellen würde, weil sie vernichtende Auswirkungen auf das exportorientierte Modell hätte, das Deutschland dem ganzen Währungsraum aufgezwungenen hat.

Vielen Dank für das Gespräch!