Vladimiro
Giacché auf der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Bildquelle:
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Deutschland habe mit seinem zwanghaft exportorientiertem Wirtschaftsmodell
auf Basis des Euros tiefe Spaltungen in der Eurozone verursacht, erklärt
der Ökonom Giacché im Interview. Es sei fraglich, ob dieses Modell
eine neue Krise überdauern kann. Der Ökonom Vladimiro Giacché
ist Vorsitzender des Centro Europa Ricerche, ein italienisches Forschungsinstitut
für angewandte Wirtschaftsanalyse. Das Gespräch führte Hasan
Posdnjakow
In Deutschland wird oft das Bild propagiert, wir seien
nach der Euro-Krise selbstlos den armen Griechen, Spaniern, Italienern u.a.
zu Hilfe geeilt. Was steckt tatsächlich hinter den Bemühungen in Berlin,
den Euro-Raum zusammenzuhalten?
Diese Gute-Samariter-Theorie ist aus
zweierlei Gründen falsch. Erstens: Kein Staat hat in den letzten 10 Jahren
so viel von den niedrigen Zinsen und den sonstigen monetären Erleichterungsmaßnahmen
(d.h. von der quantitativen Lockerung, quantitative Easing auf Englisch) profitiert
wie Deutschland. Nach einer Untersuchung
des Centro Europa Ricerche (CER) in Rom hat ausgerechnet Deutschland am meistens
an Zinsen gespart (280 Mrd. Euro), dann kommen Frankreich (230 Mrd.) und Italien
(140 Mrd.). Wie von der Bundesbank bestätigt, hat Deutschland am stärksten
von der Zinserleichterung profitiert, mit einer kumulierten Einsparung von 294,1
Milliarden Euro (siehe
Handelsblatt). Zweitens: Vor Draghis bekannten "whatever it takes"-Rede
war nicht nur Spaniens und Italiens Finanzstabilität durch die Spekulation
gefährdet: Sogar der Fortbestand des Euro insgesamt wurde dadurch in Frage
gestellt. Deswegen, und nicht aus Wohlwollen für die armen Spanier und
Italiener, wurde Draghi durch Merkels Regierung freie Hand gelassen.
Das
Ende des Euro wäre nämlich vor allem für Deutschland ein Alptraum:
Das Freiburger Zentrum für europäische Politik (CEP) hat gerade eine
Studie
veröffentlicht, in der nachgewiesen wird, dass nämlich Deutschland
der Hauptgewinner nach 20 Jahren Euro ist. "Deutschland" – kann man
in dieser Studie lesen - "hat von der Euro-Einführung bei weitem am meisten
profitiert: von 1999 bis 2017 in Höhe von fast 1,9 Billionen Euro. Dies entspricht
rund 23.000 Euro je Einwohner." Es war (und es ist) also vor allem in Deutschlands
Interesse, den Euro zu retten. Natürlich ist diese Euro-Dividende innerhalb
Deutschlands sehr ungleich verteilt worden, aber das ist eine andere Frage…
Der
Euro wird in der Öffentlichkeit gerne als Erfolgsgeschichte präsentiert.
Aber mit welchen Kosten war das Projekt Euro verbunden, vor allem für die
normale arbeitende Bevölkerung in der EU?
Der Euro hat schlicht
und einfach seine Versprechen nicht eingehalten. Die gemeinsame Währung
hat tatsächlich die Nationalökonomien des Euroraums nicht angenähert,
sondern weiter voneinander weggetrieben. Selbst die "Gewinner" erleben
eine immer größere innere soziale Spaltung. Diese störenden
Phänomene haben eine gemeinsame Wurzel: Das Wettbewerbsmodell der Eurozone
ist auf die sogenannte "Lohnmoderation" gegründet. Das heißt:
Ich werde umso wettbewerbsfähiger, desto weniger ich vom Produktivitätszuwachs
den Löhnen übergebe. Gerade das ist in Deutschland passiert: Seit
2000 bis 2012 ist die Arbeitsproduktivität um etwa 14 Prozent gestiegen,
aber in derselben Periode haben sich die reellen Löhne sogar verringert.
Damit
wird auch ein merkwürdiges Phänomen erklärt: Nämlich, dass
innerhalb eines Exportmeisters wie Deutschland ein sehr tiefes soziales Unbehagen
festzustellen ist. Fazit: Das auf Lohndeflation gegründete Exportmodell
spaltet Europa, und zugleich zerreißt die innere soziale Kohäsion.
Deswegen ist es unhaltbar.
Jahrelang bestimmte das Thema Eurokrise die Medien. Jetzt wird darüber
nur noch selten geredet. Dem Wirtschaftsraum EU gehe es besser, heißt
es. Haben wir die Krise wirklich ganz überstanden?
Die wirtschaftliche
Lage hat sich tatsächlich bis zur ersten Hälfte des Jahres 2018 erholt,
hauptsächlich dank einer besseren Exportleistung der Staaten des Euro-Raums
nach Staaten außerhalb der EU. Dann traten die ersten Probleme im internationalen
Handel auf, und jetzt ist das Ende des Zyklus wahrscheinlich in Sicht. Wir haben
aber seitdem die strukturellen Probleme nicht gelöst, die die Krise verursacht
hatten. Manche Länder - darunter Italien - haben die Höhe des Bruttoinlandsproduktes
von 2007 noch gar nicht wieder erreicht, und der Euroraum hat insgesamt in den
letzten 10 Jahren nur eine bescheidene wirtschaftliche Leistung erbracht.
Im
Mai sind EU-Wahlen. Die deutsche Linkspartei meint, diese Union sozialer und
friedlicher gestalten zu können. Wie realistisch ist das?
Nicht
sehr wahrscheinlich, leider. Es ist schwer einzusehen, wie Verträge, die
nur einstimmig verändert werden können, in eine ganz anderen Richtung
als die heutige umgesteuert werden könnten. Man sollte endlich die Dinge
betrachten, wie sie eigentlich sind: Diese EU ist unreformierbar. Es ist natürlich
immer wichtig, eine bessere und größere Vertretung im Europäischen
Parlament zu erlangen, aber dafür, um die neoliberalen Politikvarianten
und die zentralistische Richtung der EU zu bremsen und möglicherweise zu
stoppen, anstatt unrealistische Wunschvorstellungen für ein "anderes
Europa" zu verfolgen.
Vor der großen Wirtschaftskrise 2007/2008
hatte sich der Irrglaube unter den Mainstream-Ökonomen durchgesetzt, der
Kapitalismus sei nicht mehr krisenanfällig. Wie wahrscheinlich ist eine
neue Krise im Euroraum aktuell und welche Auswege gibt es?
Eine neue
Krise ist sehr wahrscheinlich, und nicht nur im Euroraum. Die 2007/2008 ausgebrochene
Finanzkrise war nämlich das Ergebnis von über drei Jahrzehnten, in
denen die Profitrate im Dreieck des reifen Kapitalismus (USA, Japan und EU)
durch eine umfassende Finanzialisierung aufgebläht wurde. Diese Finanzialisierung
hat in dreifacher Hinsicht eine wichtige Funktion geleistet, indem sie durch
Kredit- und Finanzblasen die Folgen der realen Kürzung der Arbeitseinkommen
gelindert hat, den Ausbruch der Überproduktionskrise in der Industrie aufgeschoben
hat und industriellem Kapital, das im Industriesektor eine Verwertungskrise
erlebte, neue Investitionsmöglichkeiten mit höheren Profitaussichten
verschafft hat.
Nach der Krise hat das gesamte westliche Establishment alles
Mögliche unternommen, um jenes zerbrochene Wachstumsmodell wieder in Gang
zu setzen. Wodurch? Erstens, durch eine Politik der Sozialisierung aller Verluste,
die keinen vergleichbaren historischen Präzedenzfall kennt, allein um das
Finanzsystem zu retten. Der FAZ
zufolge wurden von den europäischen Staaten nicht weniger als 1.600 Milliarden
Euro dafür ausgegeben. Darüber hinaus wurde eine extrem lockere Geldpolitik
betrieben (die Zinsen wurden auf Null herabgesetzt), und zuletzt wurde eine
wirklich unkonventionelle Geldpolitik (Ankauf von Wertpapiere durch die Zentralbanken)
umgesetzt, um die fallenden Kurse an den Finanzmärkten zu unterstützen.
Die
Nullzins-Politik der Zentralbanken hat einerseits die globale Verschuldung wieder
steigen lassen, und zwar um 72 Billionen US-Dollar - das ist mehr als das BIP-Wachstum
(und in dieser Hinsicht ist die Verschuldung der nicht-finanziellen Firmen besonders
besorgniserregend). Andererseits erlauben gerade diese extrem niedrigen Zinsen
den Zentralbanken einen nur sehr engen Bewegungsspielraum im Falle einer neuen
Krise. Das gilt besonders für die EZB.
Welche Staaten und Wirtschaftsbereiche
wären besonders anfällig für eine neue Wirtschaftskrise? Könnten
die Eurozone und die deutsche Vorherrschaft in der EU eine Krise überstehen?
Natürlich
sind die schwächeren Länder der Eurozone für eine neue Wirtschaftskrise
sehr anfällig. Aber das Gleiche gilt auch für Deutschland, weil die
nächste Krise wahrscheinlich viel zu tun haben wird mit Spannungen im internationalen
Handel. Wie das Handelsblatt - wenig verwunderlich - bemerkt
hat, ist Deutschland im Exportbereich besonders verwundbar, eben deswegen, weil
das Land alles auf den Export gesetzt hat. Eine merkantilistische Politik, einseitig
betrieben, kann sehr gefährlich sein. Ich glaube also, dass eine neue Krise
die deutsche Vorherrschaft in der EU gerade dadurch in Frage stellen würde,
weil sie vernichtende Auswirkungen auf das exportorientierte Modell hätte,
das Deutschland dem ganzen Währungsraum aufgezwungenen hat.
Vielen
Dank für das Gespräch!