Indoktriniert, isoliert und verängstigt - was Sektenaussteiger von ihrer Kindheit bei den Zeugen Jehovas berichten, klingt wie ein Alptraum. Um von ihren Erfahrungen zu berichten und Wege aus der Sekte aufzuzeigen, haben Aussteiger einen "Wachtturm-Opfer-Gedenktag" auf dem Berliner Alexanderplatz abgehalten.
Wer in einer Familie gläubiger Zeugen Jehovas aufwächst, dessen Leben unterscheidet sich oft dramatisch von dem der Gleichaltrigen: Keine Geburtstagsfeiern, kaum Kontakt zu Menschen außerhalb der Glaubensgemeinschaft, im medizinischen Notfall keine Bluttransfusion und später auch keine Beteiligung an Wahlen. Fasst jemand den Entschluss, der Sekte den Rücken zu kehren, steht er zunächst vor dem Nichts, denn bei den Zeugen Jehovas ist er ausgestoßen und andere Freunde oder Verwandte hat der Aussteiger oft nicht.
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SPUTNIK / Ilona Pfeffer
Um auf die oft schlimmen Implikationen des Sektenlebens hinzuweisen und Ausstiegswilligen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, gibt es vielfältiges ehrenamtliches Engagement, wie beispielsweise durch den Verein "JW Opfer Hilfe e.V."
Am 26.7. führte der Verein mit einem Informationsstand den "Internationalen Wachtturm-Opfer-Gedenktag" auf dem Alexanderplatz in Berlin durch.
Eine der Ehrenamtlichen, die sich an diesem heißen Berliner Sommertag auf dem Alexanderplatz eingefunden haben, ist Giulia Silberberger. In den Medien ist sie als Gründerin des "Goldenen Aluhuts" bekannt - einer Plattform, die sich mit Verschwörungstheorien auseinandersetzt. Was viele nicht wissen, ist, dass die junge Frau selbst bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen ist.
Mitglieder der Sekte würden systematisch kaputtgemacht, erzählt
Silberberger. Gerade Kinder würden extrem leiden, die seelischen Schäden
oft für das ganze Leben zurückbleiben.
"Die Seelen von
Kindern werden zerstört, sie werden mit Angst und Gewalt erzogen und der
permanenten Furcht vor Harmagedon, dem Weltuntergang, den nur die Menschen überleben,
die Jehova gefällig sind. Das ist eine fürchterliche Angst, mit der
man aufwächst und die mir eine seelische Erkrankung und einen Behindertenstatus
beschert hat. Ich möchte, dass das aufhört und dass die Leute über
die Gefahren in dieser Organisation Bescheid wissen. Dass es nicht die
friedfertigen Leutchen sind, die mit dem Trolli irgendwo am Bahnhof stehen und
Liebe predigen, sondern dass das eine eiskalte, faschistoide Gesellschaft ist,
die ihre Mitglieder zerstört."
Zudem halte sie die Zeugen Jehovas
nicht unbedingt für verfassungstreu. Aus ihrer Sicht verstoßen sie
beispielsweise gegen Artikel 6 - den Schutz der Ehe und der Familie - wenn Mitglieder
der Kernfamilie, selbst minderjährige Kinder, aus der Gemeinschaft ausgestoßen
werden und mit ihnen nicht mehr geredet wird.
Auch würde die Sekte ihr eigenes Rechtssystem pflegen:
"Wenn
ein Verbrechen innerhalb der Gemeinschaft begangen wurde, wird es in der Regel
nicht der Rechtsstaatlichkeit übergeben, sondern wird innerhalb der Versammlung
nach ganz kruden Gesetzen geklärt. Es gilt beispielsweise die Zwei-Zeugen-Regel:
Du musst zwei Zeugen vorbringen oder nichts ist passiert. Das sind einfach Sachen,
die in eine demokratische Gesellschaft wie die unsere nicht hineinpassen."
Auch Sophie Jones ist Aussteigerin. Sie sei in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren worden, erzählt die junge Frau. Wenn man es nicht anders kenne, vermisse man zunächst auch nichts. Man feiere kein Weihnachten, man feiere keinen Geburtstag. Man gehe von Kindesbeinen an mit in den Predigtdienst von Haus zu Haus. Aber je älter man werde, desto mehr werde man sich dessen bewusst, wie isoliert man sei.
"Man soll natürlich hauptsächlich Kontakt zu anderen in der Gemeinschaft haben, weil sie guter Umgang sind und alle anderen einen vom Glauben abbringen könnten. Deswegen ist es als Kind von Zeugen Jehovas sehr schwierig, normale Freunde zu finden. Wenn man älter wird, dann merkt man: Ich bin irgendwie anders, ich bin komisch, ich mache nicht die Sachen, die normale Kinder machen. Ich weiß nicht, wovon sie reden, ich gucke nicht dieselben Fernsehsendungen. Ich gehe in den Gottesdienst, ich sehe anders aus, ich benehme mich anders. Man schämt sich auch irgendwo - das ist ganz normal. Natürlich bekommt man gesagt, dass man auf seinen Glauben stolz sein soll und dass man von Gott auserwählt ist. Aber man fühlt sich eigentlich eher wie ein Freak."
Während es durchaus auch "liberale" Zeugen Jehovas gebe, sei
ihre Mutter streng gläubig und habe sie entsprechend erzogen. Der Wendepunkt
sei für sie mit dreizehn Jahren gekommen, als ihr Vater aus der Gemeinschaft
ausgeschlossen und der Kontakt zu ihm untersagt worden sei, erinnert sich Sophie
Jones.
"Das habe ich nicht gut verkraftet, ich habe wirklich sehr darunter
gelitten, zu ihm keinen Kontakt mehr haben zu dürfen. Man darf die Person
dann ja nicht einmal mehr grüßen, egal, ob Familie oder nicht. Ich
habe gemerkt, dass ich wahnsinnig unglücklich bin und habe mich gefragt:
Wofür leide ich hier? Wie kann es Gott erfreuen, dass ich so darunter leide,
dass ich meine eigene Familie verleugne? Das hat für mich keinen Sinn ergeben
und ich habe gemerkt, dass ich in meinem Leben etwas ändern muss. Ich bin
mit achtzehn ausgestiegen und habe wieder Kontakt zu meinem Vater und anderen
ausgeschlossenen Freunden gesucht."
Den Ausstieg habe sie nicht plötzlich vollzogen, denn die Rückfallquote
sei sehr hoch, weil die Aussteiger meist überhaupt keinen Halt in der Außenwelt
hätten. Sie habe eine Liste geschrieben von den Leuten, die sie durch den
Ausstieg verlieren würde, und von denen, die sie zurückgewinnen würde.
Sie habe sich parallel neue Freunde gesucht, neue soziale Kontakte aufgebaut.
"Als
ich merkte, ich bin so weit, bin ich zum letzten Mahl, dem Gedächtnismahl
gegangen. Ich habe ein paar Leuten gesagt, dass sie mich nicht wiedersehen werden,
und dann bin ich gegangen. Ich habe mir dann eine neue Handynummer zugelegt,
bin umgezogen, habe einen neuen Job angefangen. Und dann hat es ganz gut geklappt."
Heute sei sie sehr froh, dass sie sich für den Ausstieg entschieden
habe und ihren Vater wieder sehen könne, so Jones.
"Mir wurde mein
Leben noch einmal neu geschenkt. Ich kann sein, wer ich will. Ich kann tun,
was ich will. Ich kann befreundet sein, mit wem ich will. Das macht mich glücklich."
Dass Menschen wie Sophie Jones geholfen wird und dafür, dass auch in
Gesellschaft, Medien und Politik die Problematik der Sektenstrukturen wahrgenommen
wird - dafür engagiert sich der Verein "JW Opfer Hilfe e.V.".
Wie schlimm es für Mitglieder und Aussteiger tatsächlich sei, sei
Außenstehenden kaum begreiflich, sagt Stefan Barnikow von "JW Opfer
Hilfe e.V.".
"Außenstehende können es oft nicht glauben,
dass es so eine mittelalterliche Ächtungspraxis heute, mitten in Berlin
gibt. Bei uns haben die Aussteiger jemanden, der ihnen zuhört und ihr Problem
versteht."
Das missionarische Von-Tür-zu-Tür-Gehen der Zeugen Jehovas wird
von vielen zwar als aufdringlich oder lästig empfunden, gesetzeswidrig
sei es jedoch nicht, so Barnikow.
"Die Zeugen Jehovas haben es ja geschafft,
als Körperschaft des Öffentlichen Rechtes in allen Bundesländern
anerkannt zu werden. Als solches ist ihr Vorgehen rechtens, sie dürfen
missionieren. Ich darf aber als Wohnungsinhaber natürlich auch sagen, dass
ich das nicht möchte. Man muss auch verstehen: Die Zeugen Jehovas wollen
dir nichts Böses, sie wollen dich ja erretten. Im Prinzip meinen sie es
gut, es kommt aber nichts Gutes dabei rum."
Derzeit gebe es in Deutschland etwa 170.000 Zeugen Jehovas, die Zahl sei
jedoch rückläufig. Barnikow sieht den gestiegenen Ausstiegswillen
als ersten Etappensieg und Zeichen dafür, dass die Beratungsarbeit seines
und anderer Vereine sowie die Hilfestellung, die auf Internetplattformen angeboten
wird, Früchte tragen.
Überzeugte Zeugen Jehovas würden aber
nicht das Gespräch suchen - auch nicht an diesem Tag auf dem Alexanderplatz.
"Die Zeugen Jehovas selbst machen eher einen Bogen um uns", hält
Barnikow fest.