In dem Roman "Seelandschaft mit Pocahontas" sah die katholische Kirche 1955 das Allerheiligste des christlichen Glaubens verletzt. Letztlich ist es Texten wie denen von Arno Schmidt zu verdanken, dass sich die junge Bundesrepublik schon früh als Hort der Meinungs- und Kunstfreiheit hat beweisen können.
Arno Schmidt (1914-1979) war einer unserer großen Schriftsteller und Übersetzer, der den Raum der deutschen Sprache maßgeblich erweitert hat. Dieser Tage befände er sich wohl im Elysium. Zumindest wäre dies der Fall, wenn das dichterische Jenseits in Schmidts Kurzgeschichte "Tina" (1956) der Wirklichkeit entspräche. Sein "Leviathan" (1949) ist eine Erzählung von einer Bildgewalt, die den volksnahen Alltag kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs schildert. Schmidts Übersetzungen der Edgar-Allan-Poe-Texte "Siope" und "Dream-Land" sind wegweisende Werke.
Anfang 1955 erschien Schmidts Kurzroman "Seelandschaft mit Pocahontas" in der Zeitschrift Texte und Zeichen im Luchterhand-Verlag. Die katholische Kirche nahm dies zum Anlass, Arno Schmidt, aber auch den Herausgeber Alfred Andersch im April desselben Jahres mit einem Gotteslästerungs- und Pornografieprozess zu überziehen. Das Erzbistum Köln versteckte sich hinter gleich zwei Anwälten. Schmidt, der sich hingegen keinen Rechtsbeistand leisten konnte, hat erst nach Prozessende erfahren, wer ihn da verklagt. Zuständig für den Fall seitens der katholischen Kirche war Prälat Wilhelm Böhler, ein hochrangiger Funktionär. Seit 1951 war er der offizielle Vertreter der katholischen Kirche bei der Bundesregierung. 1952 hatte Böhler das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) gegründet und die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) mit aus der Taufe gehoben.
In ihren Anklageschriften hatten die Anwälte zum Teil über ein
Dutzend Textstellen zusammengetragen, die die katholische Kirche der Adenauerzeit
nicht zu tolerieren gewillt war. Hier ist ein Beispiel (Seite 11):
"…
bei mir stieg eine Nonne mit ihren Ausflugsmädchen ein, von irgendeinem
heiligen Weekend, Gestalten mit wächsernem queren Jesusblick, Kreuze wippten
durcheinander, der suwaweiße Gürtelstrick (mit mehreren Knoten: ob
das 'ne Art Dienstgradabzeichen is?). / Die Bibel is für mich 'n unordentliches
Buch mit 50.000 Textvarianten. Alt und buntscheckig genug, Liebeslyrik, Anekdoten,
das ist der Ana, der in der Wüste die warmen Quellen fand, politische Rezeptur;
und natürlich ewig merkwürdig durch den Einfluss, den es dank geschickter
skrupelloser Propaganda und vor allem durch gemeinsten äußerlichen
Zwang, compelle intrara ("Zwinge sie, einzutreten" - LK 14,23), gehabt
hat. Der 'Herr', ohne dessen Willen kein Sperling vom Dach fällt oder zehn
Millionen im KZ vergast werden: das müsste schon ne merkwürdige Type
sein - wenn's ihn jetzt gäbe!" (Aus Arno Schmidt, "Seelandschaft
mit Pocahontas" in "Das erzählerische Werk in 8 Bänden",
Haffmanns Verlag 1985)
Am 22. August 1955 wird Arno Schmidt im Amtsgericht Saar von Oberamtsrichter
Dr. Kemper drei Stunden lang vernommen. Davon berichtet seine Frau Alice in
ihren Aufzeichnungen (Alice Schmidt, Tagebuch aus dem Jahr 1955, Suhrkamp Verlag,
Berlin 2008). Die Gerichtsakten geben zudem darüber Auskunft, wie Arno
Schmidt sich zu dem obigen Textauszug erklärte:
"Wie ich bereits
bei meinen Personalien angegeben habe, bin ich glaubenslos. Über Aufbau
und Glaubenslehre des Katholizismus bin ich nicht gut unterrichtet. So weiß
ich zum Beispiel nicht, ob die Gürtelstricke der Klosterfrauen und ihre
Knoten irgendwelche Dienstgradabzeichen sind. Die Stelle auf Bl. 11, in dem
von dem 'Herrn' gesprochen ist, […] kann ich dahin erklären, dass ich hier
ein philosophisches Dilemma zum Ausdruck bringen wollte." (In Sachen Arno
Schmidt ./. Prozesse 1 und 2, herausgegeben von Georg Eyring und Jan Philipp
Reemtsma, Haffmanns-Verlag, Zürich 1988)
Anschließend vertritt Arno Schmidt seinen Standpunkt als Künstler:
"…
so kann ich nur nochmals auf das bereits oben Erwähnte hinweisen, dass
die Schilderungen eine Wiedergabe von Zeitbildern sind und dass dem Schriftsteller
gestattet sein muss, in realistischer Form diese Dinge in seinem Werk zu schildern,
auch wenn es dem einen oder anderen nicht gefallen sollte. […] Ich kann nicht
einen alten Sozialdemokraten wie den alten Anstreichermeister 'Ehrich', der
mit zu den Helden meines Romans gehört, in einer Form zeichnen, wie er
aus seiner Weltanschauung und seiner Bildungssphäre heraus wohl kaum handeln
kann." (Quelle wiederum: In Sachen Arno Schmidt)
Ein ganzes Jahr lang war der Justizapparat mit Ermittlungen und Zuständigkeitsfragen beschäftigt. Das Verfahren schwebte. Die Unsicherheit über dessen Ausgang bewirkte derweilen eine verstärkte Selbstzensur. Auch die Verlagslandschaft übte sich in Zurückhaltung, was die Veröffentlichung von Schmidts Werken anbelangte. Schmidt drohten bis zu drei Jahre Haft. Prälat Wilhelm Böhler wurde hingegen noch im selben Jahr für seine lebenslangen Verdienste um die katholische Kirche von derselben mit dem Ehrentitel "Exzellenz" ausgezeichnet.
Zu Schmidts Verteidiger (ebenfalls ohne Schmidts Wissen) wurde letztlich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Das Oberlandesgericht Stuttgart hatte den Akademiepräsidenten Hermann Kasack um ein Gutachten zu "Seelandschaft mit Pocahontas" gebeten. Kunstfreiheit und Kirche standen sich nun auf höchster Ebene gegenüber.
Das Gutachten ist auf den 21. Juli 1956 datiert. Bereits fünf Tage
später, am 26. Juli 1956, wurde das Verfahren gegen Arno Schmidt wegen
Pornografie und Gotteslästerung eingestellt. In dem Gutachten heißt
es:
"Arno Schmidt ist eine der eigenwilligsten Erscheinungen in
der modernen Avantgardistischen Literatur. Charakteristisch für seine Prosa
sind: die Kühnheit der Thematik, die ätzende Schärfe des kulturellen
Inhalts und die bis zum Radikalismus vorgetriebene Diktion der Sprache. Diese
drei Faktoren sind es, welche den kritischen Leser, je nach seiner Einstellung,
entweder anziehen oder abstoßen. […] Er [Arno Schmidt] fordert für
sich unter anderem: 'An die Stelle der früher beliebten Fiktion der »fortlaufenden
Handlung« ein der menschlichen Erlebnisweise gerechter werdendes, zwar
mageres, aber trainierteres, Prosagefüge zu setzen.' […] Es handelt sich
dabei nicht um einen wohlgefügten Bericht, sondern um eine Fülle innerer
und äußerer Momentbilder, die nach einem bestimmten künstlerischen
Prinzip […] assoziativ aneinandergereiht sind. […] So mischen sich zarte poetische
Töne von einer überraschenden lyrischen Intensität mit krassen
realistischen Aussagen, so werden gleichsam seismographisch aufgezeichnete Seelenzustände
mit frechen Bemerkungen, die einem bissigen Sarkasmus entspringen, vermengt.
Aber dieses scheinbare Durcheinander ist ein bewusstes künstlerisches Mittel,
um das Simultane, die Gleichzeitigkeit allen Geschehens, auch im Einzelnen und
Kleinen, zum Ausdruck zu bringen. Wenn man diese organisch zusammenhängenden
Elemente auseinanderreißt, tut man dem Ganzen Unrecht. […]"(Quelle
wiederum: In Sachen Arno Schmidt)