"Kirche muss wie ADAC (Allgemeiner Deutscher Automobil-Club) funktionieren"
In diesem Jahr werden erstmals weniger als die Hälfte der Deutschen Mitglied
in der Kirche sein. Was dieser Trend für die christlichen Werte bedeutet und
wie er gestoppt werden kann, wurde am 11.5. in einer Talkrunde von ARD alpha
debattiert.
Die Kirchen brauchen einen "neuen missionarischen Aufbruch". Das
sagte der BR-Journalist Tilmann Kleinjung in einer Talkrunde von ARD alpha am
Mittwoch. Die Kirchen müssten mitgliederorientierter denken und sich die Frage
stellen, wie Menschen im 21. Jahrhundert mit dem christlichen Glauben noch erreicht
werden können.
Kleinjung wünsche sich eine Kirche mit "Dienstleistungsmentalität"
wie der ADAC. Wer den ADAC anrufe, bekomme innerhalb kürzester Zeit Hilfe.
Hilfe, in verschiedenen Lebenssituationen und -fragen müssten auch die Kirchen
in einer ähnlichen Geschwindigkeit anbieten, erklärte der Journalist. Allerdings
habe er nicht das Gefühl, dass eine solche Mentalität bei den Kirchen vorherrsche.
Kirche muss auf Nahbarkeit setzen
Social Media als "Allheilmittel" sieht er skeptisch. Das, was Kirche
auszeichne, sei eine gewisse Nahbarkeit. Diese könne nicht in der Art und Weise
durch soziale Netzwerke geschaffen werden, wie sie beispielsweise durch eine
Kirche im Ort möglich ist.
Der Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollock sieht in der Nahbarkeit ebenfalls
ein Kriterium für Erneuerung. Dort, wo Kirche in der Vergangenheit nah am Volk
war, sei sie hoch geschätzt gewesen. Kirche müsse die Bedürfnisse der Menschen
wahrnehmen, damit sie sich nicht von ihr abwenden. Zudem sei zu beobachten,
dass, je autoritärer die Kirche auftrete, desto wahrscheinlicher die Abwendung
von selbiger ist.
Einig waren sich die beiden Diskutanten auch bezüglich der Zukunft christlicher
Werte. Diese seien in die Gesellschaft eingewandert und funktionierten deshalb
auch mit einer weniger großen Kirche, sagte Pollack. Zu beobachten bleibe dagegen,
wie sich "organisierte Nächstenliebe", wie die Arbeit der Caritas
oder Diakonie entwickle, wenn die dahinterstehenden Kirchen immer kleiner würden,
fügte Kleinjung an.
In alten Zeiten hatte die Kirche in der Gesellschaft große Bedeutung, denn einerseits hatte sie damals große gesellschaftliche Macht, die teilweise heute noch Nachwirkungen hat, z.B. bei der Tradition der Kindertaufe, andererseits gab es den heutigen Sozialstaat noch nicht und für viele Dinge, die heute durch sozialstaatliche Einrichtungen, wie Kranken-, Arbeitslosen- und Pensionsversicherungen etc. behandelt werden, war Gott zuständig. Genutzt hat das nichts, aber es hat sich in Problemzeiten ergeben können, dass das Problem wieder verschwand, dann hatte Gott geholfen und wenn es nicht verschwand, dann hat Gott die Leute geprüft oder gestraft.
Dass die Leute heute durch die Kirchen immer schwerer erreichbar sind,
das erkennt man fallweise in innerkirchlichen Kreisen sogar!
Ist ja auch nicht zu übersehen, man braucht sich ja bloß das Dahinschwinden
der Besuche der Sonntagsmessen anschauen. In den frühen Fünfzigerjahren
waren noch rund die Hälfte der Katholiken sonntags in die Kirche gegangen,
vor rund zehn Jahren besuchten nach kircheneigenen Angaben in der BRD nur noch
12 % der Katholiken und knapp 4% der Protestanten regelmäßig die religiös
verpflichtende Sonntagsmesse! Jetzt sind es bei den Katholiken ca. 9% und bei
den Evangelischen um die 3%, die der Sonntagspflicht noch nachkommen.
Die christliche Nächstenliebe ist eine Art Verpflichtung, die den Kirchen
kein Geld kostet, aber Gläubigen als Verdienst angerechnet werden. Diese
Almoserei hat klarerweise in heutigen Zeiten keine wesentliche gesellschaftliche
Bedeutung mehr, das hatte sie früher als es die von der Arbeiterbewegung erkämpften
Sozialrechte noch nicht gab.
Hier ein aktuelles Beispiel. Es gibt weltweit in 137 Staaten "SOS-Kinderdörfer"
mit insgesamt 65.000 dort betreuten Kindern. Ein bisschen Suche im Internet
erbrachte dazu, dass 2021 für diese Kinder 1,4 Milliarden Euro gesammelt wurden,
das sind pro Kind im Monat knapp 1.800 Euro, in Österreich beliefen sich die
elterlichen Ausgaben für Kinder bis 14 monatlich auf knapp 400 Euro bei über
14jährigen auf rund 660 Euro, also in Kinderdörfern stehen allein durch Spenden
mehr als Vierfache und etwas weniger als das Dreifache zur Verfügung!
Aber das nur nebenbei! Jetzt zur kirchlichen "Nahbarkeit"!
Die Kirche wäre hochgeschätzt gewesen als sie nahe am Volk war. Dass das für
recht viele Leute keine wertgeschätzte Nähe, sondern eine gesellschaftlich
aufgezwungene gewesen war, das fällt einem Kirchenfunktionär natürlich nicht
ein!
Man mache dazu wieder einen Blick auf die Veränderungen in katholischen
kirchlichen Gebräuchen von 2003 bis 2020 in Österreich: